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Chestertons grösste Entdeckung

Eine Kolumne von Niklaus Peter

Das Magazin N°33 – 19. August 2017

Gilbert Keith Chesterton, Vater der vergnüglich zu lesenden «Father Brown»-Krimis, schrieb vor rund 100 Jahren über seine Idee zu einem neuen Roman. Dieser sollte von einem mutigen Seefahrer handeln, der ferne, wilde Kontinente entdecken will und seine Heimat England hinter sich lässt. Da ihm jedoch ein Navigationsfehler unterläuft, kommt er vom Kurs ab und fährt, ohne es zu merken, einen grossen Bogen. Als endlich Land in Sicht kommt, bricht er in Jubel aus, weil er meint, eine unbekannte Südseeinsel entdeckt zu haben, während er doch einfach wieder auf seine alte Heimat England zusteuert. Voll Begeisterung springt Chestertons Held ans Ufer, stürmt ins Gelände und pflanzt die englische Flagge auf das erstbeste Gebäude, welches er für einen heidnischen Tempel hält – dabei ist es der Royal Pavilion im heimischen Brighton.

Was für eine Romanidee: ein Entdecker, der unversehens die Schätze seiner Heimat wahrnimmt, die Schönheiten dessen, was er stets für langweilig, bieder und altmodisch gehalten hatte. Mit wenigen Strichen skizziert der Schriftsteller die Geschichte eines Menschen, der mit neuen Augen sieht, weil er voller Erwartung ist, und dann auch noch nie wirklich Gesehenes entdeckt: seine Heimat.

Chesterton hat seinen Abenteuerroman nie geschrieben. Denn natürlich ist er selber dieser etwas komische Seefahrer und Entdecker. Er habe seine eigene spirituelle Heimat, das Christentum, neu entdecken müssen wie jener Seefahrer. Und so schreibt er stattdessen das Buch «Orthodoxie», das von dieser Wiederentdeckung handelt, wie er nach langen Jahren des Suchens, der Umwege über politische Ideologien und Ersatzreligionen, über Esoterik und seichte Theosophie schliesslich seinen Glauben wiederfindet – ein Buch voller Humor, voller Freude, voller Kampfeslust streitet er gegen alle intellektuelle Blasiertheit und die Ironisierung des Christentums, welche er selber zuvor gepflegt hatte.

Soll damit gesagt sein, dass es im Bereich der Religion keine Neuentdeckungen, keine mutigen Konversionen geben könne? Durchaus nicht. Es gibt eindrückliche Beispiele von Menschen, die sehr wohl neue, bislang unbekannte Kontinente religiöser Erfahrung entdecken.

Es geht vielmehr darum, dass man im Hinblick auf das Christentum, bis weit in die eigenen Reihen hinein, auf Vorurteile und eine erschreckende Halbbildung stösst; auf pikierte Fragen etwa, ob man denn im Ernst glaube, die Welt sei in sechs Tagen erschaffen worden. Als ob der christliche Glaube ein Reservat für beschränkte Fundamentalisten sei. Man wundert sich, ob solche Leute noch niemals einen Zipfel der reichen, differenzierten und wissenschaftlich erforschten Landschaft der Theologie wahrgenommen haben, Menschen – um im Bild Chestertons zu bleiben –, die mit dem Christentum nur archaische Inseln, vielleicht neuzeit liche Industrieruinen oder dann so etwas wie ein religiöses «Ballenberg» assoziieren, nie jedoch die vielfältige geistige und moralische Kulturlandschaft, die mit diesem Glauben verbunden ist.

Das Magazin
20. August 2017 | 07:13