Die endgültige Versöhnung

Hans A. Rapp zu Hebr 10,11-14.18

Auf den Text hin

Die Frage nach Schuld und die Sehnsucht nach Versöhnung ist ein Thema, das nicht nur die Gemüter religiöser Menschen und erst recht nicht nur die Autoren biblischer Schriften umtreibt. Sie gehören zu den Grunderfahrungen des Menschseins. Die Religionen haben unterschiedliche Antworten auf diese Fragen gefunden. Eine der wichtigsten ist der Versuch, die gestörten Beziehungen im zwischenmenschlichen Bereich und die gestörte Beziehung zum göttlichen Grund über rituelle Handlungen im Kult zu erneuern. Der kontinuierlichen Erfahrung von Schuld entspricht die kontinuierliche Aufhebung der Schuld im Ritus des Kultes. Wer das Erste Testament hernimmt, kann nicht übersehen, dass das Thema der Aufhebung von wie immer gearteter Schuld zumindest in den fünf Büchern Mose eines der beherrschenden Themen ist

Mit dem Text unterwegs

Als Lesung des heutigen Sonntags wird die Stelle Hebr 10,11­14.18 angegeben. Die Stellenangabe verrät, dass ausgewählt wurde. Das ist schade, da die Textpassage erst durch das Zitat aus Jer 31,33­34 (Hebr 10,15­17) verständlich wird. Ich würde daher vorschlagen, die Verse auch um den Preis einer etwas längeren Lesezeit nicht auszulassen.
Der Abschnitt steht innerhalb des Hebräerbriefes nicht an irgendeiner Stelle. Er schliesst den gewichtigen zweiten Hauptteil der Schrift ab (Hebr 4,14­10,18). Der Abschnitt versucht, ausgehend vom Kult Israels die Wirklichkeit und die Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu für seine Leser und Leserinnen neu zu fassen. Vor dem Hintergrund des Tempelkultes Israels wird Jesus als dessen endgültige Vollendung gedacht. In Jesus ist die Beziehung des Menschen zu Gott und die Beziehung Gottes zum Menschen endgültig ins Lot gebracht worden. Der Mensch braucht diese Gelegenheit nur noch zu ergreifen.
In Hebr 10,11­18 fällt mir vor allem auf, wie oft der Begriff «Sünde» vorkommt (Hebr 10,11.12.17.18). Die Darbringung von Opfern durch die Priester wird vor allem in Verbindung mit den Sünden der Menschen gebracht (Hebr 2,17; 5,1; 7,27). Wir würden das Erste Testament aber verkennen, wenn wir seine verschiedenen Arten der Liturgie nur unter den Vorzeichen der Schuld betrachteten. Opfer konnten auch die Dankbarkeit des Menschen Gott gegenüber ausdrücken (vgl. Lev 7,12). Ein Beispiel dafür sind die Erstlingsgaben nach der Ernte, die ein Zeichen der Dankbarkeit und der Freude des Menschen Gott gegenüber darstellen (vgl. Ex 23,15f.; Lev 23,17; Num 28,26; Dtn 26,1­4.10­11).
Für den Hebräerbrief steht jedoch der Tempelkult zuallererst im Zusammenhang mit menschlicher Schuld. Er hat in erster Linie den Versöhnungstag und die damit zusammenhängende Liturgie im Blick, wenn er von den regelmässigen, alljährlichen Opfern für die Sünden Israels spricht (Hebr 10,1­3). Er kommt zum Schluss, dass diese Opfer Schuld nicht tilgen können. Vielleicht sollte hier gesagt werden, dass auch nach jüdischem Verständnis Opfer allein Sünde nicht in jedem Fall zu tilgen vermögen. Die Mischna, die erste Kodifizierung des jüdischen Rechts, ist hier sehr deutlich. Wenn jemand sagen sollte: «Ich will sündigen und der Versöhnungstag soll es sühnen, so wird es der Versöhnungstag nicht sühnen». Streng genommen ist der Versöhnungstag eine Angelegenheit zwischen Mensch und Gott. Vergehen gegenüber dem Mitmenschen macht der Versöhnungstag nicht einfach ungeschehen. Die Mischna fährt weiter: «Sünden, die sich zwischen Menschen und Gott abspielen, sühnt der Versöhnungstag, aber diejenigen zwischen einem und seinem Nächsten sühnt der Versöhnungstag nicht, bis dass er seinem Nächsten Genugtuung geleistet hat» (MYoma 8,9). Die jüdischen Quellen packen das Problem pragmatisch an: Zuerst muss der zwischenmenschliche Bereich geregelt werden, bevor der rituelle Akt am Ende des Jahres die Ordnung auch zwischen Gott und Mensch wiederherstellt.
Für den Hebräerbrief stellt sich das Problem anders, und genau hier helfen die Passagen aus dem ersten Testament weiter: Ps 110,1 und eben Jer 31,33­34. Der Hebräerbrief denkt unter den Bedingungen einer messianischen Zeit, die mit dem Tod Jesu angebrochen ist. Das Zitat aus dem Jeremiabuch ist besonders aufschlussreich. Der Hebräerbrief hat die Stelle ausführlich schon in 8,8­12 zitiert. In der messianischen Zeit gelten für den Verfasser des Hebräerbriefes andere Regeln. Worauf es ihm ankommt, wird aus der Auswahl der beiden Stichworte aus Jer 31,33­34 deutlich: Gott hat das Gesetz in das Herz und den Verstand des Menschen eingeschrieben. Unter die Vergangenheit ist im Sinn einer Generalamnestie ein dicker Strich gezogen worden. Nur: ganz hat sich diese Endzeit noch nicht durchgesetzt: Jesus, der himmlische Hohepriester, wartet ja noch, bis ihm, mit Ps 110,1 gesprochen, die Feinde als Schemel unter die Füsse gelegt werden (Hebr 10,13.37). Zwar sind die Sünden generell vergeben, doch besteht in dieser Zwischenzeit noch die Möglichkeit, erneut schwerwiegend in die Irre zu gehen. Für diesen Fall sieht er keine Rettung mehr: wer sich auf Jesus einlässt, hat sich definitiv entschieden und muss diesen Weg bis zum Ende gehen (Hebr 10,26­27).

Über den Text hinaus

Im Text der heutigen Lesung wird eines deutlich: Es geht nicht um eine Abwertung der Frömmigkeit und Religion Israels. Es geht vielmehr um eine Verschärfung dieser Tradition unter dem Vorzeichen einer neuen, messianischen Zwischenzeit: der Zeit zwischen dem als Opfer verstandenen Tod Jesu und seiner endgültigen Wiederkunft. Diese Zeit hat es in sich: Es fehlt dem Menschen sozusagen das Auffangnetz einer regelmässig-rituell vollzogenen Versöhnung mit Gott und Mitmensch. Christen sind zu einem radikalen Schritt aufgefordert: zu einem Leben nämlich, in dem er oder sie sich einen ernsthaften Fehltritt nicht leisten kann. Die Entscheidung für den Glauben an Jesus ist radikal, unwiderruflich und gefährlich. Vielleicht ist es ein Schritt zur Versöhnung mit Israel, dass die Kirche im Angesicht der ausbleibenden Endzeit sich doch wieder auf die realistische Möglichkeit einer Buss- und Versöhnungspraxis besonnen hat. Beide, das Judentum und die Kirchen, konnten und wollten auf diesem Weg nicht mehr auf die Opferpraxis Israels zurückgreifen.

Der Autor: Hans A. Rapp, im Fach Judaistik promovierter Theologe, ist Bildungsleiter im Haus Gutenberg in Balzers (Fürstentum Liechtenstein).

Literatur: Joachim Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, (Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament. Supplementband 5), Freiburg 1994, 375­385; Erich Grässer, An die Hebräer. Hebr 7,1­10,18, (EKK XVII/2), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1991, 226­238.


Er-lesen
Vergleichen Sie das Zitat aus Jer 31,33­34 in Hebr 10,16f. mit dem vollen Text im Ersten Testament. Was hat der Verfasser weggelassen? Warum?

Er-hellen
Zählen Sie im Gespräch auf, was «Opfer» in unserem Verständnis alles bedeuten kann, und notieren Sie diese verschiedenen Bedeutungen auf einem Packpapier. Welche Bedeutung trifft am ehesten auf das Verständnis in Hebr 10,11­18 zu?

Er-leben
Wählen Sie sich denjenigen Satz aus, der Sie am meisten anspricht: Machen Sie ihn zum Beispiel zum Bildschrimschoner, oder tragen Sie ihn sich in Ihren Terminkalender so ein, dass Sie ihn die ganze Woche vor Augen haben. Geben Sie sich am Ende der Woche Rechenschaft über die Gedanken, die Ihnen damit gekommen sind.

BPA und SKZ
9. November 2003 | 00:00