Ken Loach
Schweiz

Ken Loach in Locarno: «Die Hoffnung liegt im Zorn»

Locarno, 15.8.16 (kath.ch) Der britische Regisseur Ken Loach besuchte die Piazza Grande mit seinem neuen Sozialdrama «I, Daniel Blake» am Donnerstag, 11. August, und sorgte für einen Höhepunkt am Filmfestival Locarno. Mit seinem beeindruckenden Film über Ungleichheit und Armut in Europa will Loach aufrütteln. kath.ch war an der Medienkonferenz und hat die wichtigsten Aussagen festgehalten.

Charles Martig

Was ist Ihr Anliegen, das Sie mit dem neuen Film «I, Daniel Blake» verbinden?

Ken Loach: Ich bin in einer Generation aufgewachsen, die nach dem Krieg daran glaubte, dass sie ein gemeinsames Ziel hat. Sie war auf das Allgemeinwohl ausgerichtet und wollte Wohlstand für alle. Dann kam die Ära Thatcher und all dies wurde durch die Privatisierung zerschlagen. Das Allgemeinwohl wurde durch die Gier ersetzt. Heute gibt es Menschen in Grossbritannien, die Hunger leiden; das ist etwas, das ich einfach nicht akzeptieren kann. Im fünftreichsten Land der Welt gibt es Arbeiterfamilien, die sich nicht ernähren können und die unter der Armutsgrenze leben. Gegen diese Zustände müssen wir gemeinsam kämpfen. Ich tue dies mit meinen Möglichkeiten des Kinos.

Sie machen Kinofilme, die zu Tränen rühren können, weil Sie einfache Menschen und ihre Erfahrungen zeigen. Können Sie Ihre Arbeit mit der Kamera beschreiben?

Loach:  Ich denke, dass die Position der Kamera wie ein teilnehmender Beobachter sein sollte. Wenn man die Bilder anschaut, ist es, als ob man selbst in der Ecke des Zimmers steht: aufmerksam, berührt und mit menschlichem Blick. Ich achte darauf, dass ich nicht zu nahe herangehe. Die verwendeten Kameralinsen sind wie das menschliche Auge. Wenn ich durch diese Linse schaue, reagiert das Publikum auf eine humane Weise. Das hat mit dem Teilen der menschlichen Erfahrung zu tun. So ist es möglich, mit den Figuren solidarisch zu sein. Dadurch kann man sie verstehen, als ob man selbst mit diesen Menschen im Raum wäre.

Die Kamera sollte wie ein teilnehmender Beobachter sein.

Wie haben Sie die Charaktere in Ihrem Film gefunden?

Loach: Wir haben in ganz England gesucht und kamen dann nach Newcastle, wo starke Charaktere leben und das eine Tradition im Klassenkampf hat. Aber die Realität von Menschen unter der Armutsgrenze ist nicht schwierig zu finden. Jede Woche hätten Hundertausende von Familien nichts zu essen, wenn es nicht Wohltätigkeits-Organisationen gäbe, die ihnen Lebensmittel geben. Wenn es kälter wird, müssen die Familien zwischen Kälte und Hunger entscheiden, weil das Geld nicht reicht. Das ist keine Fiktion. Man kann dies in jeder Stadt und in jedem Dorf finden.

Es gibt «foodbanks» (wohltätige Organisationen, die Nahrungsmittel an Bedürftige verteilen, Anm. d. Red.) in allen Arbeiter-Gebieten. In den meisten Supermärkten gibt es einen Korb für Bedürftige. Man kann eine zusätzliche Dose Bohnen oder Suppe kaufen und in den Korb legen. Diese Nahrungsmittel gehen an Familien, die sich selbst nicht ernähren können. Das finde ich einfach inakzeptabel. Es ist einfach nicht annehmbar, und doch wenden wir uns davon ab und tun so, als ob dies gar nicht geschehen würde.

Sie zeigen in Ihrem neuen Film, dass viele Arbeitslose unter der Verwaltung leiden. So auch die Hauptfigur Daniel, ein Schreiner, der einen Herzinfarkt erlitten hat und nun Arbeitslosengeld beantragen muss. Wie sind Sie darauf gekommen?

Loach: Die Erfahrung mit der Bürokratie ist wie bei Kafka. Wohin man sich auch wendet, taucht ein Hindernis auf und verschliesst sich die Türe. Um ein einfaches Beispiel zu geben: wenn jemand krank wird und Hilfe braucht, ist er oder sie darauf angewiesen, telefonieren zu können. Der Anruf ist kostenpflichtig. Ein Arbeitsloser gerät mit seinem Anruf meistens in die Warteschlange. Die Prepaid-Karte läuft aus, der Anruf wird nutzlos, man verpasst den Termin auf dem Arbeitslosenamt, und die Beiträge werden deshalb gekürzt, weil man den Anruf machte, den das Amt verfügt hat. Und so geht es immer weiter. Es handelt sich um einen Alptraum, um eine Falle, die der Staat bewusst nutzt. Die Verwaltung weiss, dass sie die Menschen bestraft, die zu den verletzlichsten in unserer Gesellschaft gehören. Diese Zustände werden in den Medien nicht diskutiert. Aber unser gesunder Menschenverstand sagt uns, dass dies nicht richtig ist.

Die alleinerziehende Mutter Katie spart sich das Essen vom Mund ab, damit die beiden Kinder versorgt sind. In einer Szene bei der kostenlosen Nahrungsmittelausgabe zeigen Sie, wie verzweifelt die Lage dieser Mutter ist.

Loach: Es ist eine Tragödie, was derzeit geschieht. Ich bin mir bewusst, dass es auch Momente geben sollte, in denen man lächeln kann. Es wäre falsch, meinem neuen Film ein Happy-End zu geben. Es gibt diese Szene im Film, die ich an einem realen Ort gedreht habe: Die Frauen an der Essensausgabe arbeiten wirklich dort. Die Menschen in der Schlange stehen wirklich für Lebensmittel an. Die Szene bei der Essensausgabe ist sehr authentisch, weil sie direkt aus dem Leben gegriffen ist.

Es wäre falsch, dem Film ein Happy-End zu geben.

Denken Sie, dass ein Teil dieser Leute für den Brexit gestimmt hat?

Loach: Viele Menschen haben für den Austritt gestimmt, weil sie sich von der Wirtschaft und der Gesellschaft entfremdet haben. Sie fühlen sich verlassen. Die Bürokratie ist ein System, das die Schwachen ausnutzt. Das führt zu Frustration und Unverständnis. Dies ist sicher ein wichtiger Grund für die Brexit-Entscheidung. Aber ich denke, die Entscheidung schadet langfristig den Schwächsten in der Gesellschaft, weil sie keine Arbeit finden werden, wenn es der britischen Wirtschaft schlechter geht.

Welche Möglichkeiten zur Veränderung gibt es?

Loach: Die Hoffnung liegt im Zorn. Es gibt viele junge Leute, die sich vom heutigen wirtschaftlichen System entfremdet haben. Ich bedaure, dass Grossbritannien die EU verlassen hat, denn wir sollten Verbindungen zu Europa herstellen, um Veränderungen herbeizuführen. Es braucht ein anderes Europa, ein Europa der Menschen, das nicht den Profit von grossen Unternehmen verfolgt, sondern ein Leben voll Würde und Respekt unterstützt. Es sollte möglich sein, dass alle einen Beitrag zur Gesellschaft leisten können. Wir haben die Technologie dafür, wir können uns mehrfach selbst ernähren. Wir können aufhören, den Planeten zu zerstören. Aber wir können das nicht tun, solange wir im Griff dieses wirtschaftlichen Systems sind. Bis wir das nicht begriffen haben, ändert sich nichts. Meine Hoffnung begründe ich mit dem Zorn der jüngeren Generation, die sich dagegen wehrt. (bal/ms)

Der Film «I, Daniel Blake» erhielt am Filmfestival von Cannes die Goldene Palme sowie eine Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury. Am Filmfestival von Locarno wurde der Film mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Er startet am 8. Dezember in den Schweizer Kinos.

Informationen zum Film auf der Webseite des Filmfestivals Locarno: www.pardo.ch

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Ken Loach| © Festival del film Locarno 2016
15. August 2016 | 12:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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