"Altar des westlichen Überflusses und des totalitären Merkantilismus"
Schweiz

Jean Tinguelys immerwährender Tanz mit dem Tod

Freiburg i.Ü., 23.5.16 (kath.ch) Jean Tinguely wird 25 Jahre nach seinem Tod in Freiburg ausgiebig geehrt. Nicht nur am 22. Mai, Geburtstag des Künstlers und «Tinguely-Tag». Ausstellungen zeigen: Die Themen Vergänglichkeit und Tod spielten im Werk des Künstlers, der ein schwieriges Verhältnis zur katholischen Kirche hatte, eine zentrale Rolle.

Im Espace Jean Tinguely-Niki de Saint Phalle rasselt und scheppert es nervtötend. Und nicht nur das: Die Teile der Metallskulpturen, die hier im ehemaligen Tram-Depot unweit der Kathedrale St. Nicolas in Freiburg ausgestellt sind, schlagen plötzlich aus oder drehen sich erhaben um die eigene Achse. Die eleganten Installationen aus Eisen, Schädeln und rot bemalten Metallrädern gehören zu den Stars der Museumsnacht, die dieses Jahr dem Schaffen des weltbekannten Maschinen-Poeten gewidmet ist. Sie fällt zusammen mit dem «Tinguely-Tag», dem Geburtstag des Künstlers, der dieses Jahr 91 Jahre alt geworden wäre. In thematischen Führungen im Espace können die Besucher Jean Tinguely für sich neu entdecken.

Eine Stadt entdecket seinen Weltkünstler neu

René Progin steht am Abend im Espace Jean Tinguely-Niki de Phalle. Die Kreativität zweier bedeutender Kunstschaffender des 20. Jahrhunderts kommt hier zu Ehren. Der Mann, der früher erfolgreich Motorradrennen fuhr, war ein Freund Tinguelys. Progin freut sich, dass sich Leute versammelt haben, um 2016 den «Picasso der Schweiz» mit Ausstellungen und Aktionen zu würdigen. Hier, in der Stadt, in der Tinguely geboren wurde.

In Freiburg wurde dem Mann, den die Bevölkerung oft in seinem blauen Ganzkörperoverall durch die Stadt haben gehen sahen, in dieser Woche auch das interdisziplinäre Kolloquium «Jean Tinguely: Mythos und Nachleben» gewidmet, an dem Fachleute und junge Forscher sich der Rezeption seiner Hauptwerke widmeten und sich der Frage stellten: Was kann uns Jean Tinguelys Werk heute noch sagen?

Kritik an der Konsumgesellschaft

Es muss doch einiges sein, denn das Kolloquium und jetzt auch die Museumsnacht waren äusserst gut besucht. Informationstafeln zeigen unter anderem auf, wie Jean Tinguely in den 1960er-Jahren begann, von der Wegwerfgesellschaft aussortierte Gegenstände wie Kunststoffe, Tierfelle und Metalle jeglicher Art zu Kunstinstallationen zu fertigen. Manche Werke erinnern mit ihren beweglichen Flügeltüren an katholische Altäre.

Im  Espace Jean Tinguely-Niki de Saint Phalle ist einer seiner wichtigsten Werke aus dieser Serie zu entdecken. Staunend stehen die Besucher vor dem «Altar des westlichen Überflusses und des totalitären Merkantilismus» (1989/90).

Tiefsinnige Kritik an der Konsumwut

Caroline Schuster Cordone, Vizedirektorin, Museum für Kunst und Geschichte Freiburg, sagt: «Seine Maschinen aus Eisen, Holz und Gebrauchsgegenständen haben provoziert. Auch dieses Werk ist nicht einfach nur ästhetisch schön. Dieser Altar ist eine tiefsinnige Kritik an unserer Konsumwut.»

Viele seiner Werke stellten für Tinguely ein Symbol für die Vergänglichkeit und ein «Memento mori», ein gedenken der Endlichkeit des Menschen dar. René Progin ergänzt: «Sein gesellschaftskritischer Ansatz ist in dieser durchkapitalisierten Zeit ist aktueller denn je und Inspiration auch für junge Künstler.»

Tanz mit dem Tod

Vor allem die Themen Tod, Sterben und Inferno zogen sich wie ein roter Faden durch Jean Tinguelys Leben. Sie zeigen sich vor allem in seinem Spätwerk. Nach Todeserfahrungen durch eine Herzoperation beschäftigten ihn Dämonen. Künstlerisch lehnte sich Tinguely, dessen Grossonkel Pfarrer war, gegen das Unvermeidliche mit Maschinengebilden aus Eisen, Knochen und Schädel auf.

Seine barock wirkenden «Altäre des Todes» stellte er auch in Kirchen und Klöstern aus. Der Tod, das ewig Dunkle, sollte jedoch nicht das letzte Wort haben. «So versah er seine Werke oft mit immateriellen Elementen wie Licht, Rauch und Feuer: Auferstehung, statt lähmende Finsternis», so Caroline Schuster-Cordone.

Auferstehung, statt lähmende Finsternis

Die Herausforderung des Todes, Geschwindigkeit und die Leidenschaft für Maschinen, all das, was ihn umtrieb, fand Jean Tinguely im Motorrennsport. Eine aktuelle Ausstellungen in Freiburg zeigt ihn mit dem Formel 1-Piloten Joe Siffert, mit dem er eng befreundet war. Nachdem sein Freund auf der Rennpiste starb, wurde der Tod zu einem noch bestimmenderen Thema in Tinguelys Leben. Immer häufiger verlachte er ihn in seinen Werken jedoch mit Hupen, Tröten und Rauch.

Klamauk, statt Trauer

Ein Credo Jean Tinguelys lautete: Wo Tod ist, ist auch Leben. Auf unvergessliche Weise zeigte dies seine Beerdigung am 4. September 1991 in Freiburg. «Es war kein Tag wie jeder andere. Es war traurig aber auch sehr komisch», erinnert sich René Progin. Es war ein Trauerzug, wie ihn die Schweiz so noch nie gesehen hatte: Hinter einer rollenden Tinguely-Eisenplastik marschierten die Tambouren der «Kuttlebutzer», seine Basler Fasnachtsfreunde. An der Spitze des Zuges Richtung Kathedrale schritten Pfeifer und das Musikkorps «La Landwehr» und machten Trauermusik.

Wo Tod ist, ist auch Leben

Zuhinterst rollte Tinguelys fahrende Skulptur «Klamauk» und nebelte das Volk ein. Caroline Schuster Cordone sagt: «Das Begräbnis war mehr Volksfest als Trauerfeier», und ergänzt: «Es war so, wie es sich Tinguely gewünschte hatte.» (vr)

Am 3. September 2016 findet mit dem Grand Prix Tinguely ein Volksumzug statt, der an den fröhlichen Leichenzugs von 1991 und an den bekannten Sohn Freiburgs erinnern soll. Neben Rennautos soll erneut «Klamauk» durch Freiburgs Stassen rollen und nebeln. Jean Tinguely sagte einmal: «Gestreichelt hat mich der Tod, aber: Aus seinen Drohungen habe ich ein Fest gemacht.»

«Altar des westlichen Überflusses und des totalitären Merkantilismus» | © 2016 Vera Rüttimann
23. Mai 2016 | 11:44
Lesezeit: ca. 3 Min.
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Tinguely und der Katholizimus

Jean Tinguely war, auch als er längst zum Star in der Kunstszene aufgestiegen, in seinen politischen Ansichten unbequem. Seine Konsum-Kritik fand jedoch auch bei kirchlichen Würdenträgern gefallen. In der Spätphase seines Lebens wurde der Maschinen-Poet auch von der katholischen Würdenträgern hofiert.

Mit Pierre Mamie, dem damaligen Bischof des Bistums Lausanne-Genf-Freiburg, war er gar befreundet. «Sie trafen sich ab und zu an Eishockey-Spielen von Fribourg-Gotteron», weiss René Progin, Freund des verstorbenen Künstlers. Längst war das Misstrauen ihm gegenüber verschwunden, das Tinguely zu Beginn seiner Karriere – auch von den Kirchenoberen in Freiburg – entgegengeschlagen war.

Der Künstler hatte jedoch ein schwieriges Verhältnis zur katholischen Kirche. In seiner Kindheit machten ihm die Themen Sünde und Sündenvergebung zu schaffen. Er sagte einmal über seine frühen Erfahrungen: «Den Katholizismus war wie eine Peitsche. Das Schuldgefühl musste man spüren können.»

Der Bruch mit dem Katholizimus erfolgte bei ihm, als 1939 die Mussolini-Flotte Italiens ohne Vorwarnung an einem Karfreitag Albanien angriff. Dennoch übten auf ihn Dinge wie Reliquien und Märtyrerkult ungebrochene Faszination aus. (vr)