Martin Werlen
Schweiz

Martin Werlen: «Wenn Traditionen der Tradition im Wege stehen, müssen sie aufgegeben werden»

Einsiedeln, 20.9.15 (kath.ch) Martin Werlen, Alt-Abt von Einsiedeln, zeigt in seinem Essay auf, worum es an der Familiensynode geht. Er stellt sie in den Kontext von «Tradition und Zeitgeist» und sagt: «Wenn Amtsträger bereits vor der Synode erklären, dass es keine Veränderungen geben werde, schliessen sie das Wirken des Heiligen Geistes zum Vornherein aus.» Eine Standortbestimmung für die römisch-katholische Kirche.

Martin Werlen

Angesichts der bevorstehenden Bischofssynode haben die einen Angst vor Veränderungen, die anderen Angst vor dem Ausbleiben der Veränderungen. Oft ist von Tradition und von Zeitgeist die Rede. Es lohnt sich, diese beiden Begriffe näher anzuschauen. Unter Tradition versteht die Kirche die Treue zu Jesus Christus durch den wechselhaften Lauf der Geschichte. «Diese lebendige Weitergabe, die im Heiligen Geist geschieht, wird – als von der Heiligen Schrift verschieden, aber doch eng mit ihr verbunden – ‹Überlieferung› [Tradition] genannt» (KKK, Nr. 78). Traditionalisten machen deutlich, dass man unter Tradition auch in der Kirche noch anderes verstehen kann. Eine Unterscheidung des grossen französischen Theologen Yves Congar kann hier hilfreich sein. Er spricht von der Tradition und von den Traditionen. Zur lebendigen Tradition gehört, dass darauf geachtet wird, was die Zeit von uns verlangt.

Traditionen loslassen

Traditionen können losgelassen oder verändert werden, ohne Wesentliches des Glaubens zu verlieren. Sie mussten im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder losgelassen werden, um die Tradition nicht zu gefährden, also die Weitergabe des Glaubens in der jeweiligen Zeit. Ein genauerer Blick auf Traditionen der Kirche überrascht in mancherlei Hinsicht. Er zeigt uns Liebgewonnenes und Vertrautes; er führt uns grösste Hindernisse der Kirche auf dem Weg durch die Zeit vor Augen; er offenbart uns Spielraum für dringend nötige Reformen; er stellt die Rede vom Zeitgeist in ein ganz anderes Licht. Der Zeitgeist ist es sogar, der uns Traditionen verständlich macht. «Der Zeitgeist ist die Denk- und Fühlweise (Mentalität) eines Zeitalters. Der Begriff bezeichnet die Eigenart einer bestimmten Epoche beziehungsweise den Versuch, uns diese zu vergegenwärtigen» (Wikipedia). Der Zeitgeist ist wichtig – gerade auch für die Verkündigung des Evangeliums. Wer den Zeitgeist nicht kennt, redet ins Leere, an den Menschen vorbei. Dabei ist klar: In der Kirche muss nichts geändert werden, um vom Zeitgeist anerkannt zu werden, wohl aber um in der jeweiligen Zeit glaubwürdig das Evangelium zu leben und zu verkünden.

Kirche stellt sich dem Zeitgeist

Auch in der Heiligen Schrift begegnen wir dem Zeitgeist. So nimmt zum Beispiel Jesus Erfahrungen der Menschen auf und knüpft seine Reden daran an. Er war offensichtlich mit dem Zeitgeist vertraut. Gerade auch das machte seine Unterweisungen so ganz anders als die der Schriftgelehrten und Pharisäer. Weil die Kirche es immer wieder verstand, in der Gegenwart zu leben, hat sie sich – nicht einfach ablehnend – dem Zeitgeist gestellt und vieles davon aufgenommen. Vom Zeitgeist geprägte Traditionen sind nicht wertlos oder beliebig wandelbar. Auch die Kirche braucht – wie jede andere Gemeinschaft – Regeln des Zusammenlebens und eine gemeinsame Kultur, die Heimat schenkt. Traditionen dürfen nicht nach Gutdünken und Belieben verändert werden. Aber sie können und müssen miteinander verändert werden, wenn sie der Tradition im Wege stehen. Wenn das Einzelne tun, kann grosser Schaden entstehen; wenn es die Gemeinschaft als Ganze tut, trägt es zum Aufbau bei. Einsame Entscheidungen sind nicht selten Folge der unterbliebenen gemeinsamen Entscheidungen der Kirche, die schon lange anstehen.

Mangelnder Glaube

Um die Berufung immer neu zu entdecken und zu leben, müssen die Traditionen hinterfragt werden. Das gilt auch für die Synode über die Familie. Wenn Amtsträger bereits vor der Synode erklären, dass es keine Veränderungen geben werde, schliessen sie das Wirken des Heiligen Geistes zum Vornherein aus. Folgerichtig müsste seine Nennung auch im Glaubensbekenntnis gestrichen werden. Diese Haltung mangelnden Glaubens zeigt sich auch im Umgang mit den anstehenden Frauenfragen in der Kirche. Auch hier ist die Tendenz gross, Traditionen als Tradition zu verkaufen. Aber: Die Traditionen in der Frauenfrage sind – wie alle Traditionen – vom Zeitgeist geprägt. Und der Zeitgeist ist wiederum stark geprägt von der jahrhundertealten Dominanz der Männerwelt.

Wo bleiben die Frauen?

Das Vergessen der Frau ist bereits in den Auferstehungsberichten im Neuen Testament auffällig. In Mt 28,8-10 heisst es: «Nachdem die Frauen die Botschaft der Engel vernommen hatten, verliessen sie sogleich das Grab und eilten voll Furcht und grosser Freude zu seinen Jüngern, um ihnen die Botschaft zu verkünden. Plötzlich kam ihnen Jesus entgegen und sagte: Seid gegrüsst! Sie gingen auf ihn zu, warfen sich vor ihm nieder und umfassten seine Füsse. Da sagte Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht und sagt meinen Brüdern, sie sollen nach Galiläa gehen, und dort werden sie mich sehen.» Und Paulus schreibt an die Korinther: «Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäss der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. Als Letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der Missgeburt» (1 Kor 15,4-8). Bei Paulus ist keine Rede von den Frauen, denen der Auferstandene zudem noch zuerst erschienen ist. Das grosse Problem ist auch hier, dass diese evangelische Tradition über Jahrhunderte nicht mitgehört und eine der männerdominierten Traditionen immer wieder zur Tradition erklärt wurde und wird.

Wenn Traditionen der Tradition im Wege stehen, müssen sie aufgegeben werden – selbst wenn sie liebgewonnen und vertraut sind. Das gehört zur immer wieder nötigen Entweltlichung, die Papst Benedikt XVI. angemahnt hat. (mw)

Kurzfassung eines Essays von P. Martin Werlen OSB in der neuen Ausgabe der Herder Korrespondenz: «Angesichts der Traditionen die Tradition nicht vergessen. Die katholische Kirche und die Herausforderung des Zeitgeistes».

Martin Werlen | © Kloster Einsiedeln
20. September 2015 | 10:20
Lesezeit: ca. 4 Min.
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