Bücher im Barocksaal der Stiftsbibliothek St. Gallen
Resilienz-Kalender 2020

18. Dezember: Handschriften sind Blumen

Manchmal nehme ich mir die Zeit und gehe zu den Handschriften in meiner Stiftsbibliothek. Die schwere Türe schwingt auf, ich trete ein und da stehen sie, sicher in den Gestellen verstaut. Die Türe geht zu. Es ist still.

Manche dieser Handschriften sind mehr als 1000 Jahre alt. Sie können hässlich sein, zerfranst und verschmiert, aber sie sind trotzdem alle wunderschön.

«In den Texten komme ich den grossen Autoren nahe.»

Ich nehme sie sorgfältig in die Hand und berühre damit die Hände der Schreiberinnen und Schreiber, der Pergamenterinnen und Pergamenter, der Buchbinderinnen und Buchbinder lange vergangener Zeiten. In den Texten komme ich grossen Autoren nahe: Augustinus, Beda Venerabilis, Notker Balbulus. Das ist zauberhaft, auf ganz besondere Weise echt und authentisch.

Stiftsbibliothek St. Gallen
Stiftsbibliothek St. Gallen

Mehr als hundert unserer Handschriften haben einen karolingischen Einband aus dem 9. Jahrhundert. Ihre Buchdeckel sind aus dickem Holz und mit Leder überzogen. Der Buchrücken ist breit, horizontal beschriftet, mit Lappen oben und unten, an denen sich der Band aus dem Regal ziehen lässt.

Kontrast zu unserer hastigen Welt

Die Pergamentblätter sind in Lagen von meist etwa vier bis sechs Doppelseiten gebunden. Da und dort wurden für die Buchbinder Hinweise angebracht, damit sie die Bündel richtig zusammennähten. Es gibt manchmal gar Buchzeichen an Schnüren, die für das Wiederauffinden einer Textstelle dienten. Einige Pergamentseiten wurden mit grünen oder weissen Fäden geflickt.

Das Leiden der Martha von Bethanien, 1450/1500. Der Textinhalt wird auch in der kunstvollen Initiale dargestellt.
Das Leiden der Martha von Bethanien, 1450/1500. Der Textinhalt wird auch in der kunstvollen Initiale dargestellt.

Diese Handschriften sind wie Blumen, die Herz, Geist und Sinn erfreuen. Dass es sie noch gibt, relativiert so vieles in unserer hastigen Welt, und die Ideen, die in den Texten festgehalten wurde, inspirieren bis heute. Sie machen ehrfürchtig und schenken Glück. Ja, sie können unsere Seele heilen, so wie es die Inschrift über der Stiftsbibliothek verheisst: Psyches Iatreion – Heilstätte der Seele.

Cornel Dora, Stiftsbibliothekar St. Gallen

Aktuell zeigt die Stiftsbibliothek St. Gallen die Ausstellung «Beten. Gespräch mit Gott», in der Gebetbücher und Handschriften mit Gebeten aus mehreren Jahrhunderten zu sehen sind.

Bücher im Barocksaal der Stiftsbibliothek St. Gallen | © zVg
18. Dezember 2020 | 00:00
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