Die katholische Seelsorgerin Jeanine Kosch vor dem Bundesasylzentrum Zürich, 2020
Schweiz

«Wir Seelsorgenden wirken sehr deeskalierend»

In den Schweizer Bundesasylzentren leben Menschen, die auf einen Entscheid über ihr Asylgesuch warten oder diesen bereits erhalten haben. Jeanine Kosch* (63) arbeitet seit rund drei Monaten in den Zentren Zürich und Embrach als katholische Seelsorgerin. Im Interview mit kath.ch berichtet sie über erste Erfahrungen, was die Menschen von ihr wollen und wie sie ihre Arbeit versteht.

Barbara Ludwig

Heute Vormittag waren Sie im Bundesasylzentrum Zürich als Seelsorgerin präsent. Womit waren Sie konfrontiert?

Jeanine Kosch: Ich betreue eine Familie, die auf ihrer Flucht schlechte Erfahrungen mit Uniformierten machte und sich deshalb auch vor dem Sicherheitspersonal ängstigt. Für diese Familie habe ich einen Wochenendaufenthalt ausserhalb des Zentrums organisiert, damit sie wieder einmal eine freiere Atmosphäre erleben kann – ohne Securitas-Angestellte. Es gibt kirchliche Organisationen, die Flüchtlinge übers Wochenende aufnehmen und für Kost und Logis aufkommen. Die Orte geben wir aus Sicherheitsgründen nicht bekannt.

«Einer Jugendlichen wurde das Handy geklaut.»

Dann musste ich eine Mutter beruhigen, deren Kind den Schnupfen hat. Sie vermutete, eine andere Frau, die im selben Zimmer schläft, habe das Kind angesteckt. Ich sagte ihr: «Das ganze Zentrum hat den Schnupfen.»

Einer Jugendlichen wurde letzte Woche das Handy geklaut. Sehr schlimm. Einzig das Handy ermöglicht ihr, Kontakt zu ihrer Familie halten, die sich noch in einem Flüchtlingscamp in Griechenland befindet. Gemeinsam suchten wir nach einem neuen günstigen Handy. Heute besuchte ich sie, um zu erfahren, ob es funktioniert. Schliesslich ging ich noch zu einer Frau, die letzte Woche einen Negativentscheid erhalten hat. Es ging ihr sehr schlecht. Ich blieb bestimmt zwei Stunden bei ihr.

Jeanine Kosch, Seelsorgerin im Asylbereich, beim Interview
Jeanine Kosch, Seelsorgerin im Asylbereich, beim Interview

Das letzte Beispiel zeigt: Seelsorge findet offenbar nicht immer im sogenannten Raum der Stille statt.

Kosch: Seelsorgerliche Gespräche finden oft in diesem Raum statt, neuerdings auch im Büro der Seelsorgenden, das wir seit kurzem in Zürich haben. Wir machen aber auch aufsuchende Seelsorge. Manchmal trifft man jemanden nach dem Mittagessen im Hof. Bei schönem Wetter halten sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Zentrums dort gerne auf.

Wie ist es mit Gesprächen in den Zimmern der Bewohner?

Kosch: Wenn die Intimität gewährleistet ist, sind Gespräche in den Zimmern möglich, insbesondere bei Familien, die einen Raum für sich haben. In den Schlafräumen hat es Betten und Schränke – aber keine Stühle. Als Seelsorgende stehen sie, und die Leute sitzen auf der Bettkante oder dem oberen Etagenbett. Das ist nicht sehr gemütlich.

Warum gibt es keine Stühle?

Kosch: Wir Seelsorgenden habe das an einer offiziellen Sitzung mit dem Staatssekretariat für Migration angesprochen. Das sei Standard in allen Bundesasylzentren der Schweiz, hiess es. Ich kann mir vorstellen, dass aus Sicherheitsgründen auf Stühle verzichtet wird.

«Im Setting des Asylverfahrens können wir Gastfreundschaft leben.»

In den Bundesasylzentren arbeiten Sie zusammen mit reformierten und muslimischen Kolleginnen und Kollegen. Ist man als Seelsorger nur für die Leute der eigenen Religion zuständig?

Kosch: Nein. Grundsätzlich sollen alle Seelsorger offen sein für das menschliche Bedürfnis nach Zuwendung. In erster Linie sind wir als Menschen da: Im Setting des Asylverfahrens können wir Gastfreundschaft leben, uns den Bewohnern als Menschen zuwenden. Mehr als die Religion ist die Sprache das Kriterium der Zuteilung. Ich zum Beispiel spreche weder Arabisch noch Türkisch noch Kurdisch. Asylsuchende, die nur eine dieser Sprachen sprechen, kommen bei meinen muslimischen Kollegen auf ihre Kosten.

Spielt die Religion als Kriterium der Zuteilung gar keine Rolle?

Kosch: Doch, sie kann wichtig sein. Wir Seelsorgenden zeigen bewusst, wer wir sind. Meine muslimische Kollegin trägt das Kopftuch. Die christlichen Seelsorgenden tragen ein Kreuz. Wenn eine Christin ein Gebet wünscht, kommt sie zu mir. Eine Muslimin, die gemeinsam beten will, geht zu den muslimischen Kollegen.

Das Bundesasylzentrum Zürich an der Duttweilerstrasse
Das Bundesasylzentrum Zürich an der Duttweilerstrasse

Was suchen die Bewohnerinnen und Bewohner, wenn sie zu einem Seelsorger gehen?

Kosch: Oft einfach jemanden, der Zeit hat. Im Asylzentrum sind wir diejenigen, die Zeit haben, um zuzuhören. Das ermöglicht manchen, ihre Gedanken zu ordnen. Wenn die Asylsuchenden im Rahmen der Abklärungen, die das Staatssekretariat für Migration durchführt, nochmals ihre ganze Geschichte erzählen müssen, kommt unheimlich viel wieder hoch.

«Ich bin nicht Teil des Asylverfahrens.»

Wir versuchen zudem, zwischen Bewohnern einerseits und der Betreuung und dem Sicherheitspersonal andererseits zu vermitteln. Etwa, wenn jemand mehr Milch für sein Kind wünscht oder anderes Essen. Wir wirken sehr deeskalierend. Manchmal macht uns jemand vom Sicherheitspersonal auf einen Bewohner aufmerksam, der zum Beispiel einen Negativentscheid bekommen hat und nun entweder sehr aggressiv oder sehr traurig sei.

Was sagen Sie in solchen Fällen zu der betroffenen Person?

Kosch: Ich sage ihr, dass ich nicht Teil des Asylverfahrens bin. Manchmal sage ich, dass auch ich den Entscheid aus menschlicher Sicht nicht verstehe, sich das Staatssekretariat für Migration aber an die Gesetze halten muss. Als Seelsorgerin muss ich das Unverständnis gemeinsam mit dem Betroffenen aushalten  – er fühlt sich dann weniger alleine. Was habe ich als Seelsorgerin in der Pfarrei bei einem Trauerfall gemacht? Ich konnte den Verstorbenen auch nicht wieder lebendig machen. Oder in der Spitalseelsorge? Auch Kranke konnte ich nicht wieder gesund machen. Wir müssen in der Not da sein und dürfen nicht davon laufen.

Dies betrachten Sie als Ihre Aufgabe?

Kosch: Ja. Es gibt den Gesetzesapparat, den auch ich nicht immer verstehe. Womöglich würde ich ihn verändern, wenn ich könnte. Das kann ich nicht. Trotzdem bin ich da. Religiöse Menschen ermutige ich, ihr Gottvertrauen trotz allem nicht zu verlieren. Ich versuche, ihnen ihre Menschenwürde wieder vor Augen zu halten, denn diese wurde bei all dem, was sie erlebt haben, schwer verletzt.

Haben Sie in Ihren ersten drei Monaten als Seelsorgerin etwas erlebt, das Ihnen besondere Freude bereitet hat?

Kosch: Immer wieder. Einmal erzählte mir eine hochschwangere Frau, wie sie mit ihrer Familie hierher flüchtete, die ganze Geschichte. Am nächsten Tag sass sie wieder draussen auf einer Bank im Hof. Sie rief mich zu sich. Ich fragte mich: «Was hat sie mir jetzt zu erzählen?» Nichts, sie nahm mich einfach in den Arm und sagte: «Es ist schön, bist du da.» In diesem Moment spürte ich: Meine Anwesenheit ist für sie etwas Schönes.

«Immer sind es Geschichten von Menschen, die mich beschäftigen.»

Gab es ein Ereignis, das Sie belastet hat?

Kosch: Es sind Geschichten von Menschen, die nicht spurlos an mir vorbeigehen. Von Frauen, die vergewaltigt wurden, misshandelt. Von Menschen, die gefoltert wurden. Letztes Jahr sah ich eines Abends am Fernsehen einen Bericht über den Brand in einem griechischen Flüchtlingslager. Wochen später sass mir jemand gegenüber und erzählte, er sei dieser Flammenhölle entkommen. Im ersten Moment stockt einem da schon der Atem. Immer sind es Geschichten von Menschen, die mich beschäftigen.

Nebst seelsorglichen Gesprächen will die Seelsorge auch besondere Angebote machen. Was ist da unterdessen entstanden?

Kosch: Für die Bewohnerinnen und Bewohner des Zentrums in Zürich bieten wir am Dienstagvormittag einen Spaziergang an der Limmat mit Kaffeehalt an. Ursprünglich war die Idee, mit Interessierten gemeinsam zur reformierten Kirche in Höngg zu gehen, dort eine kurze Meditation zu halten, Kaffee zu trinken und anschliessend zum Zentrum zurückzukehren, ebenfalls zu Fuss. Es hat sich aber gezeigt, dass insgesamt zwei Stunden Gehzeit für manche zu anstrengend ist.

«In Embrach haben wir das Café international eingerichtet.»

Im Bundesasylzentrum Embrach haben wir das Café international eingerichtet. Es soll ein Ort der Begegnung sein, wo Menschen niederschwellig mit den Bewohnern des Zentrums in Kontakt kommen können. Wir haben es geschafft, dass Freiwillige das Zentrum betreten dürfen. Seit dem Neubau des Bundesasylzentrums in Embrach im letzten Sommer war das ja nicht mehr möglich. Es handelt sich also um ein Projekt von Seelsorgenden und Freiwilligen. Das Café international ist jeweils am Mittwochnachmittag während zwei Stunden geöffnet. Wir bieten dort auch Spiele für Kinder und Erwachsene an.

*Jeanine Kosch (63) ist Theologin. Sie arbeitet als katholische Seelsorgerin seit Anfang November 2019 mit einem 80-Prozent-Pensum in den Bundesasylzentren Zürich und Embrach.

Die katholische Seelsorgerin Jeanine Kosch vor dem Bundesasylzentrum Zürich, 2020 | © Barbara Ludwig
12. Februar 2020 | 09:45
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Seelsorge in Bundesasylzentren

In allen Bundesasylzentren der Schweiz haben Asylsuchende Zugang zu Seelsorge. Grundlage dafür ist eine Rahmenvereinbarung zwischen Religionsgemeinschaften und dem Staatssekretariat für Migration (früher Bundesamt für Flüchtlinge) aus dem Jahr 2002. In den Zentren Zürich und Embrach arbeiten insgesamt fünf Seelsorgende, zwei reformierte, zwei muslimische und eine katholische Seesorgende (siehe Interview mit Jeanine Kosch). Die Bundesasylzentren wurden zur Umsetzung der beschleunigten Asylverfahren eingerichtet, die seit März 2019 in Kraft sind. Damit die Asylverfahren effizient durchgeführt werden können, sind die Asylsuchenden und die für das Verfahren zuständigen Personen oder Organisationen unter einem Dach, in einem Zentrum des Bundes, vereint. (bal)