Archäologe Jürg Goll vor der Heiligkreuzkapelle beim Kloster St. Johann in Müstair GR
Schweiz

Welterbetag Müstair – Dem Maler aus der Karolingerzeit auf die Finger geschaut!

Müstair GR, 9.6.16 (kath.ch) Im Kloster St. Johann im Val Müstair sind Wandmalereien aus der Zeit Karls des Grossen und der romanischen Epoche erhalten. Am kommenden Welterbetag, 12. Juni, kann das Publikum einen Teil der Fresken für einmal aus der Nähe betrachten – vom Gerüst aus. Dabei lässt sich entdecken, wie der Maler damals vorging, erläutert Jürg Goll. Der Archäologe und Kunsthistoriker erzählt im Interview mit kath.ch auch, welche spektakulären Entdeckungen die Forschung verbuchen konnte, seit die monumentale Klosteranlage von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt wurde.

Barbara Ludwig

1983 wurde das Kloster St. Johann in Müstair in die Liste der Weltkulturerbestätten aufgenommen. Warum?

Jürg Goll: Man hat erkannt, dass im Kloster der am besten erhaltene Zyklus von Wandmalereien aus dem frühen Mittelalter vorhanden ist. Eigentlich hatte man die Fresken bereits vor 120 Jahren entdeckt. Um 1950er wurden die Malereien freigelegt und restauriert. Bis zur Aufnahme ins Weltkulturerbe dauerte es aber noch etwas. Zunächst musste die Schweiz das Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt unterzeichnen. 1983 wurden das Kloster St. Johann, die Altstadt von Bern und der Stiftsbezirk St. Gallen als erste Welterbestätten der Schweiz anerkannt.

Sie betreuen die Klosteranlage seit 1987 als Archäologe und Kunsthistoriker, haben auch lange Zeit die archäologischen Ausgrabungen geleitet. Haben Sie spektakuläre Entdeckungen gemacht?

Goll: Wir mussten zum Teil unsere Vorstellung von der Entstehung der Gebäude in der Klosteranlage revidieren. So haben wir zum Beispiel entdeckt, dass die Heiligkreuzkapelle nicht romanisch ist, sondern aus der Zeit Karls des Grossen stammt. Und dass sie mit Malereien, Stuckaturen und Chorschranken aus Marmor ausgestattet war – ein tolle Ausstattung! Es gelang uns, die Einrichtung ziemlich gut zu rekonstruieren. Wir entdeckten auch, dass die hölzerne Zwischendecke der zweigeschossigen Kapelle aus der Zeit Karls des Grossen noch zur Hälfte vorhanden ist und auf das Jahr genau datiert werden kann, nämlich auf 788. Das ist etwas ganz Einmaliges! Ohne Untersuchungen und Forschungen hätte man dies nicht entdeckt.

Das gleiche passierte mit dem «Plantaturm» im Nordosten der Klosteranlage. Man ging davon aus, der grosse, mächtige Turm sei von der Äbtissin Angelina Planta zur Zeit des Schwabenkrieges 1499 als Verteidigungsbau errichtet worden. Deshalb heisst er Plantaturm. Es war eine Epoche, in der das Kloster umkämpft und auch einmal angezündet wurde. Die Untersuchungen zeigten aber, dass der Turm bereits um 960 entstanden ist. Er gilt als der älteste noch existierende Wohnturm im ganzen Alpenraum.

Der Legende nach wurde das Kloster St. Johann von Karl dem Grossen, dem Frankenkönig und späteren Kaiser, gestiftet. War das tatsächlich so?

Goll: Es gibt keine Quellen, die belegen, wer das Kloster gestiftet hat. Allerdings deuten der umfangreiche Bauplan und die Entstehung der Klosteranlage nach der Eroberung der Lombardei darauf hin, dass Karl der Grosse der Gründer war. Karl liess sich 774 zum König der Langobarden krönen. 775 wurde das älteste datierte Bauholz, das wir gefunden haben, geschlagen. Die Legende erzählt, dass Karl der Grosse nach der Krönung zum König der Langobarden über den Umbrailpass zog und dort in einem Schneesturm gelobte, er würde ein Kloster stiften, wenn er heil aus dem Schlamassel käme.

Alles passt gut in die Zeit der Ostexpansion des Karolingischen Reiches: Sowohl die Legende als auch die sehr grosse Anlage, die den Eindruck vermittelt, es könne nicht einfach der Bischof von Chur gewesen sein, der sie errichtet und finanziert hatte. Wir glauben, dass eine potentere Macht dahinter war, nämlich Karl der Grosse.

Gab es aufgrund der Aufnahme ins Weltkulturerbe mehr Geld für Ausgrabungen und die Erforschung der Klosteranlage?

Goll: Ja. Wir erhalten allerdings nicht Geld von der Unesco selber. Die Anerkennung machte es jedoch leichter, Zugang zu Subventionsgeldern und auch zu Sponsorengeldern zu erhalten.

Führte die Aufnahme ins Weltkulturerbe auch zu einer Zunahme bei den Besucherzahlen?

Goll: Ja, auf jeden Fall. Alleine die Statistik der Museumsbesucher zeigt das. Früher besuchten zwischen 4000 und 6000 Personen pro Jahr das Klostermuseum. 2002 richtete man das neue Klostermuseum ein, das heute von 20’000 und 25’000 Personen jährlich besucht wird. Wesentlich höher ist aber die Zahl derjenigen, die die Klosterkirche und die Klosteranlage besichtigen und vielleicht auch dem Klosterladen einen Besuch abstatten. Hier gehen die Schätzungen von etwa 100’000 Personen jährlich aus.

Aus Anlass der bevorstehenden Schweizer Welterbetage ist es möglich, einige der berühmten Wandmalereien in der Klosterkirche aus der Nähe anschauen, die man sonst nur von weitem sieht. Welchen Gewinn stellt das für den Betrachter dar?

Goll: Wenn man ein Bild von weitem anschaut, fliesst vieles ineinander. Steht man aber direkt vor dem Bild, sieht man alle Details und kann nachvollziehen, wie damals der Bildaufbau gemacht wurde. Das ist unglaublich spannend!

Ich hatte heute Gelegenheit, mit dem Restaurator auf das Gerüst zu steigen. Man sieht, wie der Malputz aufgetragen wurde. Man sieht die Überlappungen der einzelnen Schichten. Man sieht, wie das Gesicht geplant wurde, die Vorzeichnungen dafür. Das sind ganz feine Ritzlinien. Man entdeckt, dass mit Schablonen gearbeitet wurde und wie die einzelnen Farbschichten sich überlagern. Das Weiss liegt auf dem Rot. Zuletzt wurden die Weisshöhungen (hervorgehobene Lichter in der Malerei auf einem farbigen Untergrund, Anm. d. Red.) aufgetragen und ganz zum Schluss mit einem Bleiweiss verstärkt. All diese Vorgänge kann man an der Wand eins zu eins ablesen, während man von unten keine Chance hat, die Feinheiten des Malschichtenaufbaus zu beobachten.

In der Klosterkirche sind Malereien im karolingischen und im romanischen Stil erhalten. Worin unterscheiden sich die beiden Stile?

Goll: Am Welterbetag kann man das wunderbar erklären. Es handelt sich um komplett verschiedene Arten des Malens, der Bildkomposition und der Darstellung von Personen. Das karolingische Malen ist fast ein bisschen naturalistisch, es hat noch einen antiken Hintergrund. Die romanischen Malereien werden grafischer, ein bisschen karikierend, wenn es sich um bösartige Figuren handelt, zum Beispiel um Henker. Das Ganze ist übersteigert, farbiger, mit starken Linien umzogen. Manchmal muten romanische Malereien fast comicartig an.

In der Klosterkirche kann man ablesen, dass die romanische Schicht auf der karolingischen liegt und diese einst vollständig überdeckte. Um das Jahr 1200 wurde nämlich die ganze Ostwand der Klosterkirche aufgehackt und aufgerauht, um eine neue Putzschicht darauf zu legen und die romanischen Malereien aufzutragen. Davon fiel ein grosser Teil, ungefähr die Hälfte wieder ab. Jetzt sieht man im oberen Teil die karolingischen Malereien, im unteren Teil blieben die romanischen Fresken erhalten.

Gibt es etwas in der Klosteranlage, ein Gebäude oder ein Kunstwerk, das Ihr Herz höher schlagen lässt?

Goll: Das ist die Heiligkreuzkapelle, die am Rande des Friedhofs steht. Das ist ein ganz besonderer Bau, der sich vom Rest der Klosteranlage unterscheidet. Ich habe das Gefühl, dass andere Leute, andere Hände sie erbaut haben. Es könnte sich um einen Residenzbau handeln, vergleichbar mit einer Privatkapelle der ganz Grossen im Reich Karls des Grossen. Vielleicht war es die Privatkapelle des Bischofs von Chur beziehungsweise des damaligen Abtes Remedius. Dieser unterhielt enge Beziehungen zum Hof des Karls des Grossen. (bal)

Jürg Goll ist als Mitarbeiter des kantonalen Archäologischen Dienstes Graubünden verantwortlich für die archäologischen Belange im Kloster St. Johann in Müstair. Er ist Archäologe und Kunsthistoriker.

 

Archäologe Jürg Goll vor der Heiligkreuzkapelle beim Kloster St. Johann in Müstair GR | © 2016 Silvana Dettmann/zVg
9. Juni 2016 | 15:30
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Welterbetage in der Schweiz

Drei Naturphänomene und acht Kulturleistungen in der Schweiz gehören zum Weltnatur- beziehungsweise zum Weltkulturerbe, darunter die Berner Altstadt, der Stiftsbezirk St. Gallen sowie das Kloster St. Johann in Müstair GR. 2016 finden erstmals deutschschweizerische Welterbetage statt. Die Veranstaltung wird am Samstag, 11. Juni, in Bern offiziell eröffnet. Am Sonntag, 12. Juni, bieten alle elf Welterbestätten in der Schweiz ein individuelles Programm an.

Das Kloster Müstair startet den Tag mit einem Gottesdienst in der Klosterkirche. Zu dem Programm gehören unter anderem eine Führung zu den Wandmalereien in der Nordapsis der Klosterkirche. Dabei besteht die Möglichkeit, auf ein Gerüst auf neun Metern Höhe zu steigen, um die Fresken unter kundiger Führung aus der Nähe betrachten zu können. Auf einer weiteren Führung können Interessierte karolingische Wandmalereien im Bereich der Nonnenempore in der Klosterkirche besichtigen. Die Nonnenempore ist normalerweise für Aussenstehende nicht zugänglich. Ebenfalls angeboten wird eine Führung in der Heiligkreuzkapelle, deren Obergeschoss mitten in einer Restaurierungsphase steht. (bal)