Meike Kocholl hat die App "Resilyou" entwickelt.
Theologie konkret

Weihnachten konkret: Mit der Gratis-App «Resilyou» die eigene Resilienz stärken

Der «Friede auf Erden» beginnt im eigenen Herzen. Um Zufriedenheit und Resilienz zu fördern, hat die reformierte Kirche St. Gallen eine Gratis-App entwickelt: «Resilyou». Sie hilft zu reflektieren, was einem Freude bereitet und wofür man dankbar ist. Die App entstand in einem «Design Thinking»-Kurs an der HSG.

Raphael Rauch

Was bietet Ihre App «Resilyou»?

Meike Kocholl*: Mit «Resilyou» können Sie in fünf Minuten pro Tag Ihre mentale Stärke trainieren. Die App fragt zum Beispiel: «Wofür bist du heute dankbar? Auf was bist du heute stolz? Wer hat dich heute inspiriert – und warum?» Wenn man das regelmässig macht, stärkt das die eigene Resilienz.

Achtsamkeit
Achtsamkeit

Warum ist das so?

Kocholl: Dafür gibt es mehrere wissenschaftlich belegte Gründe. Einerseits greift zum Beispiel, was wir im Fachjargon Neuroplastizität nennen. Das ist die Eigenschaft des Gehirns, durch Training veränderbar zu sein. Im Hirn gibt es ganz viele Verbindungen zwischen verschiedenen Nervenzellen. Vergleichen kann man diese mit Autobahnen, die oft automatisiert ablaufen. Manchmal sind unsere Autobahnen aber negative Muster. Deswegen müssen wir Autobahnen mit positiven Mustern aufbauen. Doch das geht nicht von heute auf morgen. Wir fangen langsam mit einem Trampelpfad an, dieser wird zu einer Landstrasse und idealerweise durch tägliches Training wird daraus am Ende eine positive Autobahn.

Meike Kocholl hat die App "Resilyou" entwickelt.
Meike Kocholl hat die App "Resilyou" entwickelt.

Wie genau funktioniert Ihre App?

Kocholl: Die App ist eine Art digitales Tagebuch. Ich schreibe dort jeden Tag eine kurze Reflexion auf. Zum Beispiel drei Punkte, für die ich dankbar bin. Später, in einer Krise, kann ich mir die Liste dann anschauen. Und meistens geht’s mir dann schon besser, weil ich viel Positives vergessen habe. Zum anderen kann ich Zwischenstopps einlegen, zum Beispiel nach 20 Tagen, und die Einträge auf Muster prüfen. Wenn ich zum Beispiel viel Dankbares im Beruf empfinde, aber wenig in Freundschaften und in der Familie, merke ich: Vielleicht sollte ich an meinem Privatleben etwas ändern. Besonders stolz bin ich auf die Funktion, dass wir die Tagebuch-Einträge mit einer anderen Person teilen können.

Meike Kocholl hat die App "Resilyou" entwickelt.
Meike Kocholl hat die App "Resilyou" entwickelt.

Was habe ich davon?

Kocholl: Zum einen üben Sie Ihre Resilienz konsequenter, wenn Sie mit einer Freundin oder einem Freund eine Abmachung treffen. Wenn Sie eine Push-Nachricht erhalten und erfahren, wofür Ihre Partnerin oder Ihr Partner dankbar ist, dann motiviert das, selbst dranzubleiben. Zum anderen kann Sie die Person auf neue Gedanken bringen. Und aus der Psychologie wissen wir, dass Teamwork zusammenschweisst. Es tut psychisch gut, mit jemandem zusammen ein Projekt zu stemmen. Wichtig ist, dass es keine fremde Person ist, sondern eine, die ich kenne und die mich so annimmt, wie ich bin.

«Es ist etwas Magisches, was da passiert.»

Warum ist das wichtig? Vielleicht wäre ich zu einer fremden Person ehrlicher?

Kocholl: Vielleicht. Es ist womöglich auch erstmal einfacher, zu einer fremden Person offen zu sein. Als Menschen haben wir aber eine Sehnsucht in uns, so erkannt zu werden, wie wir wirklich sind – und trotzdem noch vom Gegenüber angenommen zu werden. Genau dieses Gefühl bekommt man, wenn man das Tagebuch mit einem guten Freund teilt oder mit einer Partnerin oder mit Geschwistern. Die Nutzerinnen und Nutzer können dieses Gefühl nur schwer beschreiben: Es ist etwas Magisches, was da passiert. Wir haben mit «Resilyou» auch das Ziel, Freundschaften zu vertiefen, denn diese sind das Allerwichtigste für eine starke Resilienz und natürlich auch, wie Studien zeigen, für ein erfülltes Leben. 

Ein Mann kniet im Gebetsraum in Frankfurt.
Ein Mann kniet im Gebetsraum in Frankfurt.

Könnte man aus «Resilyou» ein Familienprojekt machen mit mehreren Mitgliedern?

Kocholl: Momentan geht das noch nicht, die App ist für zwei Menschen gedacht. Aber wir haben die Gruppen-Funktion auf dem Schirm. Vielleicht können wir das beim nächsten Update anbieten.

«Positive Gefühle eröffnen einen sehr grossen Handlungsspielraum.»

Hoffen Sie, dass Ihre App die Resilienz stärkt? Oder haben Sie wissenschaftliche Belege dafür?

Kocholl: Die App ist erst frisch auf dem Markt. Wir konnten die Wirkung der App noch nicht testen. Aber das Konzept dahinter ist wissenschaftlich erprobt. Wir arbeiten mit Ansätzen der positiven Psychologie. Durch den Fokus auf Positivität im Alltag kommt eine Positivitätsspirale in Gang. Die Professorin Barbara Fredrickson hat herausgefunden, dass positive Gefühle einen sehr grossen Handlungsspielraum eröffnen. Wenn es einem gut geht, dann bin ich motivierter, Neues auszuprobieren – und ich bin sozialer. Mit dieser Offenheit schaffe ich mir bewusst oder unbewusst Ressourcen. In einer Krise kann ich darauf zurückgreifen. Ich weiss, was ich brauche, damit es mir besser geht. Ich lasse mich nicht runterziehen, sondern die Spirale geht positiv weiter nach oben.

Die App "Resilyou" fragt: "Wofür bist du dankbar?"
Die App "Resilyou" fragt: "Wofür bist du dankbar?"

Kann ich auch Sorgen aufschreiben, etwa wenn mich etwas belastet?

Kocholl: Wir setzen bewusst auf positive Emotionen und Gefühle. Das heisst aber nicht, dass wir Negatives ausblenden. Nur möchten wir dem Negativen nicht noch mehr Raum geben, als es eh schon hat.

«Eine Pause einlegen, ein- und ausatmen – und bewusst etwas Positives abrufen.»

Die positive Psychologie erfährt auch Kritik. Manche halten sie für eine neoliberale Denkschule, die der Selbstoptimierung und Profitmaximierung diene.

Kocholl: Wir dürfen positive Psychologie nicht mit «toxischer Positivität» verwechseln. Es geht nicht darum, auf Teufel komm raus positiv zu denken, sondern authentisch positiv zu sein. Wenn ich mich nicht gut fühle, soll ich nicht krampfhaft tun, als könne ich trotzdem positiv denken. Es spricht aber nichts dagegen, dass ich eine Pause einlege, ein- und ausatme – und bewusst etwas Positives abrufe.

Der St. Galler Kirchenratspräsident Martin Schmidt
Der St. Galler Kirchenratspräsident Martin Schmidt

Sie haben die App für die reformierte Kirche in St. Gallen entwickelt. Liegt das daran, weil die Kirchen mit Resilienz, Meditation und Spiritualität eher bei jungen Leuten punkten können als mit Zwingli und Calvin?

Kocholl: Die App ist im Rahmen eines «Design Thinking»-Kurses an der HSG entstanden. Wir sind hier nach dem Lehrbuch vorgegangen und haben gefragt: Was brauchen die Leute? Welches Produkt würde sie ansprechen? Und da fiel immer wieder das Stichwort Resilienz. Und das passt zu den Reformierten. Die Kirchen haben eine jahrhundertlange Erfahrung mit Seelsorge. 

«Anfangs wurde ich wegen des eher verstaubten Images der Kirche sehr positiv überrascht.»

Von der HSG-Welt in die Kirchen-Bubble: War das ein Kulturschock?

Kocholl: Schon etwas. Ich bin überhaupt nicht kirchlich erzogen, stand Religion und Kirche aber schon immer eher positiv gegenüber. Anfangs wurde ich wegen des eher verstaubten Images der Kirche sehr positiv überrascht. Teilweise haben mich die Reformierten sehr inspiriert in dieser für mich recht neuen Welt. Die Zusammenarbeit war von einer sehr wertschätzenden Kultur geprägt. Das ist in der Wirtschaft nicht immer so. Beim Tempo hingegen dürften die Kirchen gerne einen Zahn zulegen (lacht).

Meike Kocholl hat die App "Resilyou" entwickelt.
Meike Kocholl hat die App "Resilyou" entwickelt.

Die App ist Ergebnis eines einjährigen Unikurses. Wie haben Ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen darauf reagiert?

Kocholl: Nicht alle hatten Lust, sich für ein kirchliches Projekt zu engagieren. Ich bin froh, mich für dieses Projekt entschieden zu haben. Ich habe viel gelernt. Und im Gegensatz zu manch anderem Projekt konnten wir es tatsächlich umsetzen – und haben es nicht für den Papierkorb entwickelt.

Wofür sind Sie heute dankbar?

Kocholl: Ich bin dankbar, dass ich mit meiner ganzen Familie Weihnachten feiern kann und dass mich die Deutsche Bahn pünktlich nach Hause gebracht hat.

* Meike Kocholl (27) hat für die reformierte Kirche in St. Gallen die kostenlose App «Resilyou» entwickelt. Sie hat an der Universität St. Gallen (HSG) einen Master in «Business Innovation» abgeschlossen. 


Meike Kocholl hat die App «Resilyou» entwickelt. | © Raphael Rauch
25. Dezember 2022 | 10:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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