Schiitenführer Grossjatollah Ali al-Sistani und Papst Franziskus in Nadschaf in Irak am Samstag, 6. März 2021.
Vatikan

Warum Franziskus' Besuch bei den Schiiten historisch ist

Zum ersten Mal hat ein Papst einen schiitischen Grossajatollah im Irak getroffen: Franziskus besuchte Ali al-Sistani für ein Privatgespräch. Der 90 Jahre alte Islam-Gelehrte verkörpert die moralische Autorität des Irak.

Wie der Vatikan mitteilte, fand die mit Spannung erwartete Begegnung in der Residenz des Grossajatollahs in Nadschaf statt. Das katholische Kirchenoberhaupt betonte bei der 45-minütigen Unterredung die Bedeutung des interreligiösen Dialogs für den gesamten Nahen Osten. Zudem dankte der Argentinier dem 90-Jährigen für dessen stabilisierende Rolle in den vergangenen Jahren.

«Verteidigung der Schwächsten und Verfolgten»

Angesichts von Gewalt und Schwierigkeiten habe der muslimische Geistliche «seine Stimme zur Verteidigung der Schwächsten und Verfolgten erhoben», sagte Vatikansprecher Matteo Bruni. Darum sei Ali al-Sistani ein wichtiger Faktor für die Einheit des irakischen Volkes.

Matteo Bruni ist der Direktor des Presseamts des Heiligen Stuhls.
Matteo Bruni ist der Direktor des Presseamts des Heiligen Stuhls.

Beobachter gehen davon aus: Mit seinem Besuch möchte Papst Franziskus Impulse zum Frieden zwischen den Religionen geben – auch innerhalb von Religionen. Zugleich wird es als Friedenssignal in Richtung der schiitischen Grossmacht Iran gewertet.

Trennung zwischen Sunniten und Schiiten

Schiiten sind neben den weitaus dominierenden Sunniten eine der beiden Hauptrichtungen des Islam. Ihr Anteil an der muslimischen Weltgemeinschaft wird auf zehn bis 13 Prozent geschätzt. Iranische Quellen nennen höhere Zahlen.

Eine Schiitentruppe trägt ein Plakat mit Grossajatollah Ali Husaini al-Sistani in der irakischen Stadt Kerbala.
Eine Schiitentruppe trägt ein Plakat mit Grossajatollah Ali Husaini al-Sistani in der irakischen Stadt Kerbala.

Die grösste Gruppe innerhalb der Schia bilden die Zwölfer-Schiiten, so genannt nach den zwölf Imamen, die sie als alleinige legitime Nachfolger des Propheten Mohammed betrachten. Im Streit darüber wurzelt die Trennung zwischen Sunniten und Schiiten.

Vernunft als Mittel der theologischen Wahrheitsfindung

Wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Strömungen liegen weiter in der Rolle der Gelehrten und der theologischen Methodik, im Verhältnis zum Staat, in Spiritualität und Brauchtum.

"Ashura"-Umzug der Schiiten in Zürich
"Ashura"-Umzug der Schiiten in Zürich

Kennzeichnend für die schiitische Lehre ist, dass sie auf Vernunft als Mittel der theologischen Wahrheitsfindung setzt, eine gegenwartsbezogene Auslegung des Glaubens sucht und weltliche Macht als vorläufig betrachtet. Das Gedenken an das Leiden der Imame prägt die Volksfrömmigkeit.

Anerkennung durch andere Gelehrte

Das Washingtoner Pew Research Center (2009) geht von 154 bis 200 Millionen schiitischen Muslimen weltweit aus. Etwa drei Viertel von ihnen konzentrieren sich auf vier Länder: Iran, Pakistan, Indien und Irak. Im Irak, dem Ursprungsland der Schia, machen Anhänger dieses Bekenntnisses zwei Drittel der Bevölkerung aus.

Zwei Kinder im Irak. Auf der Fahne sind die Imame Hussein und Ali zu sehen – Verwandte des Propheten Mohammed. Sie werden von den Schiiten als Kriegshelden und Märtyrer verehrt.
Zwei Kinder im Irak. Auf der Fahne sind die Imame Hussein und Ali zu sehen – Verwandte des Propheten Mohammed. Sie werden von den Schiiten als Kriegshelden und Märtyrer verehrt.

Höchste Lehrautorität im Irak und darüber hinaus ist Grossajatollah Ali al-Sistani mit Sitz in Nadschaf. Seinen Titel erhält er aufgrund der Anerkennung durch andere Gelehrte, nicht durch ein formalisiertes Verfahren.

Schreine der Imame sind heilige Stätten

Als heilige Stätten der Schiiten gelten die Schreine der Imame in den irakischen Orten Kerbela, Nadschaf, Samarra und al-Kazimiyya, ein Vorort von Bagdad. Der Iran verfügt mit Maschhad und Qom ebenfalls über wichtige Wallfahrtsstätten. Bedeutende Zentren der theologischen Lehre sind Qom und Nadschaf. (cic)


Schiitenführer Grossjatollah Ali al-Sistani und Papst Franziskus in Nadschaf in Irak am Samstag, 6. März 2021. | © Keystone/SDA
6. März 2021 | 09:29
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