Tischgebet in der Familie.
Schweiz

Von Generation zu Generation weniger religiös

Eine neue Studie zeigt auf, wie die Säkularisierung in der Schweiz vor sich geht. «Die Gesellschaft wird nicht deshalb weniger religiös, weil Erwachsene den Glauben verlieren, sondern weil ältere, religiösere Generationen durch neue, weniger gläubige Generationen ersetzt werden», sagt Jörg Stolz, Professor an der Universität Lausanne und Mitverfasser der Studie, «Generationen abnehmenden Glaubens. Religion und Säkularisierung in der Schweiz 1930–2020».

Eva Meienberg

Mit dieser Studie zur Kohorten-These lässt sich die Schweiz mit anderen westlichen Ländern vergleichen. «Es ist verblüffend, wie ähnlich der Säkularisierungstrend in den untersuchten Ländern verläuft», sagt Jörg Stolz. Frankreich, Italien, Grossbritannien und andere Länder zeigten trotz ihrer unterschiedlichen Geschichte und Religionspolitik die gleiche Entwicklung.

Jörg Stolz sieht darin «eine grosse unbeantwortete Frage der Religionssoziologie». Selbst in den USA, die in Bezug auf Religion ganz anders funktioniere als andere europäische Länder, sei das gleiche Phänomen zu beobachten.

Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie an der Universität Lausanne
Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie an der Universität Lausanne

Religion weniger wichtig als den Eltern

Die Ursache des Säkularisierung-Trends sieht der Religionsforscher bei der Weitergabe der Religion der Eltern an ihre Kinder. Die Forschung habe bis anhin jedoch keine Eigenschaften gefunden, die eine Weitergabe begünstigten oder hemmten. «Es scheint einfach so zu sein, dass in den untersuchten Gesellschaften die Kinder der Religion weniger Wichtigkeit beimessen als ihre Eltern», und dies ungeachtet des Bildungsstandes oder der Stadt-Land Differenz. Einzige Ausnahmen bildeten streng religiöse Familien, sagt Jörg Stolz.

Fronleichnamprozession in Appenzell, 2021
Fronleichnamprozession in Appenzell, 2021

Für die Kirchen ist der Befund eine problematische Nachricht. Denn ohne zu wissen, was eine Weitergabe von Religion begünstigt, können sie dem Bedeutungsverlust nur schwer etwas entgegenhalten. «Immerhin wissen die Kirchen damit aber auch, dass sie nichts falsch machen», sagt der Religionssoziologe. Insofern könnten die Erkenntnisse der Studie für die Institution Kirche auch «entlastend» sein, wie Jörg Stolz anmerkt. Allerdings ist dies angesichts der festgestellten Entwicklung bestenfalls ein schwacher Trost.

Studie mit traditionellem Religionsbegriff

Religiosität machen die Religionssoziologen an den Parametern Kirchgang, Beten und Gottesglaube fest. Entlang dieser Kriterien ist der beschriebene Trend klar ersichtlich. Jörg Stolz räumt ein: «In der Studie verwenden wir einen engen, traditionellen Religionsbegriff.» Die strikten Parameter, mit denen nach Religion gefragt wird, sind primär den Grenzen des verfügbaren Datensatzes geschuldet. Dieser reicht bis in die 1930er Jahre zurück, eine Zeit, in der auch in der soziologischen Forschung ein engerer Religionsbegriff vorherrschte als heute.

Gläubige beten in der Kathedrale Chur.
Gläubige beten in der Kathedrale Chur.

Jörg Stolz sieht in der scharfen Begriffsabgrenzung aber keine Schwäche der Studie: «Gemäss unserer Definition muss Religion mit einer Transzendenz zu tun haben, mit etwas Übernatürlichem, mit Gott, Göttern, oder unsichtbaren Mächten, mit denen man in Kontakt treten kann, um ein Problem zu lösen. Ein solcher Religionsbegriff erlaubt es, Religion deutlich von nichtreligiösen Phänomenen zu trennen.»

Zwar greifen kirchenfremde Menschen für die Taufe, Hochzeit oder Beerdigung immer noch auf kirchliche Angebote zurück. Aber Angebote freier Rituale haben auch dieses einstige Monopol der Kirche geknackt.

Keine spirituelle Revolution in der Schweiz

Die Studie widerspricht auch der in der Religionsforschung lange Zeit postulierten Vorstellung, wonach die Menschen zunehmend gläubig seien, ohne einer kirchlichen Institution anzugehören. Diese Annahme stand in der Forschung unter dem Titel «beliveing without belonging» zur Diskussion. Auch die «spirituelle Revolution» zeigt sich nicht am Horizont der Schweizer Religionslandschaft.

Yoga in der Natur
Yoga in der Natur

Alternative Religion fülle die Leerstelle, die institutionelle Religion hinterlasse, nicht, sagt Jörg Stolz. Die Praxis alternativer Religion pendle sich auf einem konstanten Niveau ein. Allerdings beruhten die Ergebnisse zur alternativen Spiritualität auf einem geringeren Zeitraum und vergleichsweise wenigen Indikatoren, gibt der Religionssoziologe zu bedenken.

Säkularisierung kein unumkehrbarer Prozess

Eine gewisse Hoffnung für die Kirchen gibt es insofern, als Säkularisierung kein unumkehrbarer Prozess sei, sagt der Religionsforscher. Es gibt Beispiele für eine Zunahme von Religion nach einschneidenden gesellschaftlichen Ereignissen. So geschehen in Georgien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Die schwerwiegendste gesellschaftliche Folge der Säkularisierung sieht Jörg Stolz in der ökonomischen Verarmung der Kirchen und dem damit einhergehenden Rückgang der kirchlichen Sozialleistungen. «Das ist ein negativer Effekt für die Gesellschaft und bringt die Frage mit sich, wer diese Leistungen übernehmen könnte.» Einen Wertezerfall fürchtet Jörg Stolz aber nicht. In Schweden etwa, wo die Gesellschaft bereits stärker säkularisiert sei als in der Schweiz, benähmen sich die Leute nicht schlechter.

Jörg Stolz nimmt an der Veranstaltung «Welche Kirche für unsere Zeit? Unterwegs zur Synode ’23» an der Universität Freiburg/Schweiz am 18. November teil.


Tischgebet in der Familie. | © KNA
12. November 2021 | 12:37
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Zur Studie

Die Studie «Generationen abnehmenden Glaubens. Religion und Säkularisierung in der Schweiz 1930-2020»wurde am Institut des sciences sociales des religions an der Universität Lausanne von Jörg Stolz und Jeremy Senn durchgeführt. Sie untersucht die Säkularisierung seit 1930 auf der Basis von mehr als 30’000 befragten Personen.