Hossam Abdel-Rehim (rechts) arbeitet mit einem Flüchtlingskind
Schweiz

Traumaarbeit mit Flüchtlingskindern: «Das Ziel ist verzeihen, nicht vergessen»

Zürich, 28.9.15 (kath.ch) Welche Spuren hinterlässt die Flucht aus der Heimat bei Kindern und wie können sie lernen, solche Erlebnisse zu verarbeiten? Im Interview mit kath.ch erzählt der Arzt und Psychotherapeut Hossam Abdel-Rehim vom seiner Traumaarbeit mit syrischen Flüchtlingen, die derzeit in der Marienburg in Thal SG untergebracht sind.

Sylvia Stam

Wann spricht man von einem Trauma?

Hossam Abdel-Rehim: Ein Trauma ist eine seelische Verletzung, die durch Ereignisse von ausserordentlicher Bedrohung verursacht werden. Der innere Kern einer Person, ihr Weltbild, ihre Grundüberzeugungen, das alles wurde erschüttert und ist in Frage gestellt.

Was für traumatisierende Ereignisse haben Kinder erlebt?

Abdel-Rehim: Sie haben Kriegs- und Fluchttraumata. Sie haben Bombardierungen ihrer eigenen Häuser erlebt, Durchsuchungen ihrer Häuser, Verhaftungen ihrer Väter oft vor ihren Augen, sie waren Zeugen von Leichen auf den Strassen. Die Flucht bedeutet zudem das Verlassen von Vertrautem. Oftmals kommen mehrere solcher Erlebnisse zusammen, darum sprechen wir eher von komplexer T raumatisierung.

Wie merken Sie, ob ein Kind traumatisiert ist?

Abdel-Rehim: Sie sind schlecht sozialisiert und verhalten sich in sozialem Kontext nicht wie vergleichbare Gleichaltrige: Sie können im Klassenzimmer nicht ruhig sitzen, können sich schlecht konzentrieren, sie neigen zu Schlägereien. Sie sind aber auch sehr anhänglich, sie möchten umarmt werden und kuscheln, was für Aussenstehende manchmal zu viel wird. Sie machen widersprüchliche Aussagen, am Anfang wirkten sie verwirrt, sie sind oft ängstlich.

Wie reagieren Sie auf solches Verhalten?

Abdel-Rehim: Wir haben versucht, ihnen einen strukturierten Tagesablauf zu geben, damit sie erst einmal zu Ruhe kommen: Freizeit und Arbeitszeit sind klar geregelt, es gibt Schulbetrieb, Sportbetrieb, konkrete Essenszeiten, begrenzten Internetzugang, Abendruhe.

Wie sieht Traumaarbeit mit Kindern ganz konkret aus?

Abdel-Rehim: Wir arbeiten nach der Narrativen Expositionstherapie (Net) für Kinder, aber auch mit Sandkisten, Gestalt- und Maltherapie. Bei der Net arbeitet man mit Seilen, Steinen, Blumen und Zettelchen. Das Seil steht für die Lebenslinie, die Steine für traumatische Ereignisse, die Blumen sind die fröhlichen Ereignisse im Leben wie das erste Velo oder eine bestandene Prüfung. Auf die Zettelchen können die Kinder die Ereignisse malen.

Nun geht es darum, das traumatisierende Ereignis in einen Lebenskontext einzuordnen, sodass man weiss, wann, wie und wo das passiert ist. Das Kind malt dies, denn kleinen Kindern fehlt oft noch das Vokabular. Das Ereignis ist im Gedächtnis oft ein Wirrwarr, mit der Anordnung des Seils, der Steine und der Blumen gelingt es, das Ereignis einzuordnen, eine Kontinuität in die Lebenslinie zu bringen. Das Ereignis wird so ein Teil meines Lebens, das damals und dort passiert ist, und das Heute ist etwas anderes. Das Kind lernt zu unterscheiden und hat keine Angst mehr, wenn es ein Geräusch hört: Kommen sie jetzt? Passiert mir jetzt etwas? Sondern es kann erkennen: Ah, das ist ein Ton, es knallt von einem Auto draussen, es ist keine Bombardierung.

Mit der Sandkiste ist es ähnlich: Da ist eine Kiste mit Sand und verschiedene Figuren aus Plastik oder Wachs. Das Kind probiert, das, die Situation, die es beschäftigt, zu gestalten und sich darin auch eine Gestalt zu geben. Wenn ich meinen Ängsten und Alpträumen Gestalt gebe, kann ich sie manipulieren und auch kontrollieren. Das sind Techniken, um die Struktur des Traumas im Gedächtnis zu reduzieren. Man nennt das Symptommanagement. Das Trauma wird man nie vergessen, man kann nur verzeihen. Das ist das Ziel.

Merken Sie in dem halben Jahr, in dem die Kinder bei Ihnen sind, Veränderungen?

Abdel-Rehim: Jede Traumatherapie gestaltet sich in drei Phasen: Stabilisierung, Bearbeitung des Traumas und Reintegration in die Gesellschaft. In der Marienburg begrenzen wir uns realistischerweise auf die Stabilisierung. Das heisst Symptommanagement, lernen, zur Ruhe zu kommen, Emotionen kontrollieren können, sich neu zu orientieren, die nächsten Ziele zu bestimmen. Wir beobachten, dass die Kinder bei uns tatsächlich ruhiger werden.

Verarbeiten Kinder Traumata anders als Erwachsene?

Abdel-Rehim: Kinder erholen sich schneller als Erwachsene, ihr Nervensystem ist flexibler. Kinder kennen keine Opferrivalität im Gegensatz zu Erwachsenen, die anfangen, sich untereinander zu bewerten, indem sie fragen, wer mehr geschädigt wurde. Kinder haben auch eine gewisse Leichtigkeit des Seins, mehr als Erwachsene.

Was geschieht, wenn ein Kind sein Trauma nicht verarbeiten kann?

Abdel-Rehim: Spätere Störungen sind so gut wie sicher: Antisoziales Verhalten, Gewalt, Sucht, Persönlichkeitsstörungen. Menschen mit diesen Symptomen sind auch schwer in der Arbeitswelt zu integrieren. Zum Trauma gehört eine Spaltung des Bewusstseins: Traumatisierte denken ständig an das Trauma, sie sind gar nicht wirklich in der Gegenwart. Sie vergessen zum Beispiel im Tram auszusteigen, weil sie woanders sind, und dann kommt der Kontrolleur und sie kriegen eine Busse. In der Familie sind sie ein Problemfall, weil sie aggressiv sein können, das führt zu Isolierung in der Familie, sie sind aber auch kein Mitglied der Gesellschaft mehr.

Erleben Sie auch Schönes mit traumatisierten Flüchtlingskindern?

Abdel-Rehim: Ja, wir erfahren viel Zuwendung und Zuneigung. Wenn sie vom Flughafen kommen, sind sie verwirrt, und nach einem halben Jahr hat man das Gefühl, sie fangen an, kindliche Wünsche zu äussern, sie haben das Gefühl, dass es vorwärts geht, fangen nach einem Monat an, Deutsch zu lernen. Da hat man das Gefühl: Ein Kind wird wieder Kind. Es ist wieder Vertrauen ins Leben da, das ist etwas sehr Schönes.

Gibt es genügend Psychotherapeuten und Dolmetscher, um die traumatisierten Flüchtlinge zu unterstützen?

Abdel-Rehim: Nein, der Zugang zur Therapie ist sehr begrenzt. Das Ambulatorium für Kriegs- und Folteropfer in Zürich hat ein Jahr Wartezeit. Wir hoffen, dass wir im Kanton St. Gallen die jetzigen Angebote ausweiten können. (sys)

Hinweis für Redaktionen: Zu diesem Beitrag sind beim Katholischen Medienzentrum kostenpflichtige Bilder von Hossam Abdel-Rehim erhältlich. Bestellungen sind zu richten an redaktion@kath.ch. Kosten für einmaliges Nutzungsrecht: Erstes Bild CHF 80.-, ab zweitem Bild zum gleichen Anlass/Thema CHF 60.-.

 

Hossam Abdel-Rehim (rechts) arbeitet mit einem Flüchtlingskind | © 2015 zVg
27. September 2015 | 09:13
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Hossam Abdel-Rehim (55) kommt ursprünglich aus Ägypten, wo er Medizin studiert hat. In der Schweiz zum Psychiater ausgebildet, arbeitet er seit 1995 als Traumatherapeut für Menschen aus dem arabischsprachigen Raum. Als Chefarzt ist er einen Tag pro Woche in der Marienburg tätig, daneben führt er eine eigene psychotherapeutische Praxis in Zürich.

In der Marienburg, dem ehemaligen Internat der Steyler Missionare in Thal SG, werden von August 2014 bis Ende 2015 insgesamt 120 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Sie sind Teil der 500 Kontingentflüchtlinge, die ohne ordentliches Asylverfahren in die Schweiz kommen dürfen. Betreut werden die Flüchtlinge vom Trägerverein für Integration des Kantons St. Gallen und von der Kantonalen Organisation für Migration und Integration.

Gemäss internationalen Zahlen sind 40-45 Prozent der Flüchtlinge weltweit traumatisiert. In der Marienburg werden Behandlungen in Traumatherapie angeboten, ausserdem Schulunterricht auf verschiedenen Stufen sowie Coaching beim Umgang mit der Schweizer Kultur.