Tovia Ben-Chorin
Schweiz

Tovia Ben-Chorin starb im St. Galler «Foyer zum Paradies»

Der liberale Rabbiner Tovia Ben-Chorin ist in St. Gallen gestorben. Wie sein Vater Schalom Ben-Chorin pflegte er den christlich-jüdischen und den interreligiösen Dialog. Sein Humor war legendär. Doch wenn nötig, sprach er auch Klartext. Etwa, als Altbischof Vitus Huonder zu den Piusbrüdern zog.

Raphael Rauch

Tovia Ben-Chorins gute Laune war selbst im hohen Alter ansteckend. Zu fast jedem Thema fiel ihm ein Witz oder eine Anekdote ein – selbst zum Thema Reinkarnation.

Ein Rabbiner als Katze?

So erzählte er gerne von seiner Zeit als Rabbiner in Jerusalem, wo ein rothaariger Kater sich öfter zum Schabbat in die Synagoge schlich. Ein rothaariger Mann soll sich darüber beschwert haben. Tovia Ben-Chorins Konter lautete: «Das ist die Seele eines orthodoxen Rabbi, der zur Strafe in einem liberalen Gottesdienst den Schabbat feiern muss.»

Zu traurigen Themen wie antisemitischen Verschwörungstheorien, die während der Corona-Pandemie Konjunktur hatten, äusserte sich der Rabbiner vor einem Jahr zurückhaltend: «Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Damit müssen wir leben.» 

Kritik am Antijudaismus der Piusbrüder

Wenn nötig, sprach er aber Klartext. Als der emeritierte Churer Bischof Vitus Huonder 2019 ins Knabeninstitut der Piusbrüder nach Wangs SG zog, verurteilte Ben-Chorin das in aller Schärfe aufgrund der antijudaistischen Prägung der Piusbrüder.

Tovia Ben-Chorin wirkte in zahlreichen progressiv-jüdischen Gemeinden in den USA, Israel, Zürich, Berlin und zuletzt in St. Gallen. Gemeinsam mit seinem Vater hatte Tovia Ben-Chorin 1958 die Har-El-Gemeinde im Zentrum Jerusalems gegründet, in der er später als Rabbiner wirkte. Sie gilt als Gründungsgemeinde der israelischen Bewegung für Reform und progressives Judentum. 

Von Israel nach Zürich

1996 wurde Tovia Ben-Chorin von der liberalen Gemeinde in Zürich, Or Chadasch, angefragt, weil es einen Mangel an deutschsprachigen Rabbinern gab. Dort war er 13 Jahre lang tätig, bis er zur Liberalen Gemeinde in der Berliner Pestalozzistrasse wechselte. Vor ein paar Jahren wechselte er nach St. Gallen: «Eine kleine Gemeinde mit weniger als 100 Mitgliedern: Sie ist traditionell ausgerichtet, hat aber viele Freidenker», scherzte Tovia Ben-Chorin.

Für sein Engagement im jüdisch-christlichen, interreligiösen und interkulturellen Dialog wurde Ben-Chorin 2014 mit dem Deutschen Dialogpreis ausgezeichnet. Politisch engagierte er sich gegen die israelische Besatzung und den Siedlungsbau, unter anderem in der jüdischen Initiative JCall Deutschland, der er zwischenzeitlich vorstand.

«Unermüdlicher Einsatz»

Der Runde Tisch der Religionen St. Gallen und Umgebung nannte Ben-Chorin die «gute Seele» im interreligiösen Dialog. Sein Engagement schien unerschöpflich zu sein, wie es weiter hiess. 

«Der Tod von Rabbiner Ben Chorin erfüllt uns mit grosser Trauer. Sein Engagement für die jüdische Gemeinschaft und sein unermüdlicher, jahrelanger Einsatz für den interreligiösen Dialog bleiben unvergessen», teilte der Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, Jonathan Kreutner, kath.ch mit. Der Zentralrat der Juden in Deutschland drückte in einem Tweet seine Trauer aus und betonte: «Seinen Humor und Elan werden wir vermissen.» 

Er lernte in Palästina deutsch und hebräisch

Tovia Ben-Chorins Vater Schalom war als Fritz Rosenthal aus Deutschland vor den Nazis geflohen und ins damalige Palästina emigriert. Tovia Ben-Chorin wurde 1936 in Jerusalem geboren. Er wuchs zweisprachig auf, lernte deutsch und hebräisch. «Meine Eltern mussten sich während des Kriegs oft rechtfertigen, warum sie auf der Strasse mit ihren Kindern deutsch sprachen», sagte Tovia Ben-Chorin 2020 zu kath.ch. «Doch mein Vater sagte, man könne nicht ‘die Deutschen’ verurteilen; die Gräuel seien von den Nationalsozialisten begangen worden.»

Später erzählte Tovia Ben-Chorin immer wieder, er habe in Jerusalem ganz praktisch den Dialog zwischen den Religionen mitbekommen.

Die jüdischen Wurzeln des christlichen Abendmahls

Der christlich-jüdische und der interreligiöse Dialog waren für Schalom Ben-Chorin mehr als nur ein Austausch von Wissen, Betonen von Gemeinsamkeiten und Differenzen. Er lebte den Dialog mit ganzem Herzen – und freute sich über die seltenen Momente, wenn ihn römisch-katholische Priester einluden, Eucharistie am Altar zu feiern – um so an die jüdischen Wurzeln des christlichen Abendmahls zu erinnern.

Der Jesuit Christian Rutishauser (links) mit dem liberalen Rabbiner von St. Gallen, Tovia Ben-Chorin im Jahr 2021.
Der Jesuit Christian Rutishauser (links) mit dem liberalen Rabbiner von St. Gallen, Tovia Ben-Chorin im Jahr 2021.

Tovia Ben-Chorin, der viele Sprachen sprach und in vielen Ländern lebte, hatte St. Gallen im hohen Lebensalter liebgewonnen. Er nannte St. Gallen immer wieder «Foyer zum Paradies». Ob er jetzt im Paradies ist? Auch auf diese Frage hätte Tovia Ben-Chorin eine humorvolle Antwort parat gehabt. Vielleicht, dass seine Seele als Katze in einem orthodoxen Gottesdienst feiern muss. 


Tovia Ben-Chorin | © Raphael Rauch
23. März 2022 | 19:11
Lesezeit: ca. 3 Min.
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