Peter Spichtig, Dominikaner, als Kantor beim Trauergottesdienst für seinen Mitbruder Hubert Niclasse
Story der Woche

Peter Spichtig: «Häufige Beichte hat das Sakrament der Versöhnung kaputt gemacht»

Der «traditionelle» Katholizismus wurde im 19. Jahrhundert erfunden – «und damit auch die Erhöhung des Priesters», sagt Peter Spichtig vom Liturgischen Institut. Das hatte Auswirkungen auf die Beichte. Heute tendieren Pfarreien eher zum Versöhnungsweg. Spichtig kritisiert: «Die deutschsprachige Kirchenautoritäten haben es noch nicht gewagt eine verbindliche Form der Versöhnungsfeier zu definieren».

Jacqueline Straub

Derzeit feiern viele Kinder ihre erste heilige Kommunion. Traditionell ist vor dem grossen Fest die Beichte vorgesehen. Überfordert die Beichte nicht die Kinder?

Peter Spichtig*: Es ist wichtig, dass Kinder in eine wohlwollende Atmosphäre eingebettet sind. Wenn das Beichtgespräch gut und einfühlsam gemacht wird, gibt es keinen Schaden. Aber es kommt drauf an, wie der Priester das macht.

Sind Priester hierfür ausreichend geschult?

Spichtig: Wenn ein Kind zur Beichte geht, muss ein Priester damit umgehen können. Er muss sich auf dieser Ebene der kindlichen Psychologie einstellen. Gleichzeitig muss der Priester dem Kind klar machen, dass es bei der Beichte um eine Erfahrung der Barmherzigkeit geht – und nicht um Einschüchterung.

Beichtstuhl
Beichtstuhl

Brauchen Priester Nachhilfeunterricht, wie man mit Kindern in der Beichte richtig umgeht?

Spichtig: Ich gehe davon aus, dass die Priesteramtskandidaten dafür sensibilisiert sind. Aber dennoch: Im Theologiestudium mangelt es an einzelnen Spezifikationen. Ich staune, dass dort relativ wenig Psychologie vorkommt. Ein Priester muss ein hoch reflektiertes Verständnis seiner Rolle insbesondere im Kontext von liturgischen Handlungen entwickeln. Er darf selbstverständlich keinen bei der Beichte ausfragen und Beichte ist geheim. Im guten Sinn heisst das: Es ist ein geschützter Raum. Der Priester muss Zuspruch geben. Wenn der Priester das gut macht, dürfte es eigentlich keinen Missbrauch im Beichtstuhl geben.

«Zudem gibt es ein grosses Machtgefälle.»

In der Vergangenheit wurde der Beichtstuhl zum Tatort. Priester missbrauchten dort Kinder. Die Beichte wurde genutzt, um Straftaten vorzubereiten, denn die Kinder wurden ausgefragt und somit als potentielle Opfer gescannt. Wo und wie sollte die Beichte heutzutage stattfinden?

Spichtig: Ein Eins-zu-eins-Setting ist heute vielen suspekt. Zudem gibt es ein grosses Machtgefälle. Wenn Missbrauch verhindert werden soll, braucht es eine allgemeine, nüchterne Mentalität wie man Beziehungen gestaltet – erst recht dem Priester gegenüber. Den Katholizismus, den wir als traditionell erachten, der wurde im 19. Jahrhundert erfunden – und damit auch die Erhörung des Priesters. Diese Strukturen müssen kritisch durchleuchtet werden. Es braucht aber auch bauliche Massnahmen in der Kirche. Es gibt in vielen Einrichtungen schon die Vorschrift, dass es keine geschlossenen Räume geben darf.

Inschrift auf einem Beichtstuhl in der Kapuzinerkirche Wesemlin in Luzern.
Inschrift auf einem Beichtstuhl in der Kapuzinerkirche Wesemlin in Luzern.

Also statt eines Beichtstuhls ein gläserner Raum?

Spichtig: Ja, so in diese Richtung. So können Eltern etwa sehen, dass die Distanz zu dem Kind gewahrt wird. Dennoch verhindert das nicht den spirituellen Missbrauch. Hierarchische Beziehungen sind potenziell immer missbräuchlich.

Der Autor der deutschen MHG-Missbrauchsstudie, Harald Dressing warnt vor der Kinderbeichte. Was sagen Sie dazu? 

Spichtig: Für unseren Breitengrade würde ich stark favorisieren, den Versöhnungsweg zu stärken. Dem vorausgehend sollte es eine altersgerechte Erstkommunionsvorbereitung geben. Ein nächster Schritt wäre dann die Schwierigkeiten im Umgang miteinander zu thematisieren.

«Mit einem Versöhnungsweg rettet man den Grundgedankten des Sakraments der Beichte.»

Die Erstkommunion würde also von der Beichte losgelöst. In vielen Pfarreien wird stattdessen ein Versöhnungsweg begangen.

Spichtig: In den letzten 30 Jahren hat sich der Versöhnungsweg bewährt. Dort befassen sich Kinder der 4. oder 5. Klasse mit den Themen Schuld, Umkehr, Reue und Versöhnung. Mit einem Versöhnungsweg rettet man den Grundgedankten des Sakraments der Beichte.

Wie gestaltet sich der Versöhnungsweg?

Spichtig: Beim Versöhnungsweg wird oft die ganze Familie eingebunden. Sie setzen sich mit den Themen Schuld, Reue und Vergebung auseinander und kommen dann auch gemeinsam zum Versöhnungsweg in die Kirche. Kinder durchlaufen verschiedene Stationen – zusammen mit einem Erwachsenen. Wenn das Kind dann so weit ist, kann es zum Priester gehen, der in einer Ecke in der Kirche sitzt. Dort kann dann das Sakrament der Beichte gespendet werden. Das ist transparent und dort ist die Rolle des Priesters eingebettet in die Gruppendynamik, die den ganzen Versöhnungsweg trägt.

«Ein Schuldbewusstsein erfordert mehr Reflexion und Reife.»

Manchmal finden die Versöhnungswege aber auch ohne einen Priester statt. Verliert dadurch das Sakrament der Beichte an Bedeutung?

Spichtig: Häufige Beichte hat das Sakrament der Versöhnung kaputt gemacht. Wir müssen die Thematik der Versöhnung neu etablieren. Denn das Böse gibt es in der Welt – und jeder weiss, dass sich in jedem Menschen innere Abgründe auftun können.

Reicht es, einmal einen Versöhnungsweg zu machen?

Spichtig: Ich finde es wichtig, wenn in Pfarreien regelmässig gemeinschaftliche Bussfeiern stattfinden, aber auch die Form des Seelsorgegesprächs und die klassische Beichte angeboten wird.

Denken Sie, dass Kinder im Alter von neun oder zehn Jahren schon so grosse Sünden begehen können, um beichten zu müssen?

Spichtig: Kinder können durchaus verstehen, dass sie einen Fehler gemacht haben. Doch die Unterscheidung zwischen Fehler und moralischer Schuld, die Sünde darin zu sehen, ist ein komplexer Vorgang. Ein Schuldbewusstsein erfordert mehr Reflexion und Reife.

Gesprächszimmer zum Beichten
Gesprächszimmer zum Beichten

Welches Alter ist optimal für die erste Beichte?

Spichtig: Ich möchte mich mangels Kompetenz nicht auf ein Alter festlegen. Aber sicherlich nicht Kinder der 1. oder 2. Klasse.  

Heute wird in Pfarreien überwiegend der Versöhnungsweg gefeiert. Wie hat sich das Sakrament der Beichte über die Jahrhunderte verändert?

Spichtig: Die jetzige Ordnung der Feier der Busse stammt aus der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils, sie stammt aus dem Jahr 1974. In den ersten 1000 Jahren wurde derjenige, der sich versündigt hatte, aus der sakramentalen Gemeinschaft ausgeschlossen. Ihm wurde ein Busswerk aufgetragen. Etwa ein Bussgewand zu tragen und nach Rom oder Jerusalem zu pilgern. Wenn er dann wieder lebend zurückkam, wurde er in der Osternacht feierlich eingegliedert. Im ersten Jahrtausend gab es keine Ohrenbeichte. Es ist eine Entwicklung, die mit der monastischen Missionierung Europas zu tun hat. Beichte, so wie wir sie heute kennen, kam erst im Spätmittelalter auf. Auch das Zustandekommen der sieben Sakramente ist nicht ursprünglich. Sie kam in der Scholastik auf.

Statue von Papst Pius X. im Garten des Seminars der Priesterbruderschaft St. Pius X. in Ecône VS
Statue von Papst Pius X. im Garten des Seminars der Priesterbruderschaft St. Pius X. in Ecône VS

Könnte die Siebezahl der Sakramente heute geändert werden?

Spichtig: Nur weil sich etwas geschichtlich entwickelt hat, heisst es ja nicht, dass es schlecht ist, was dabei rauskam. Der Heilige Geist war hoffentlich mit auf dem Weg.

Wie entwickelte sich die Beichte weiter?

Spichtig: Im Mittelalter entwickelte sich die eucharistische Frömmigkeit, die sich in der Schaufrömmigkeit zeigte. Es gab eine Distanzierung vom Sakramentenempfang mit gleichzeitiger geistlicher Erhörung des Sakraments. Das führte dazu, dass nur einmal im Jahr die Eucharistie empfangen – und dementsprechend auch nur einmal im Jahr gebeichtet wurde.

Wann wurde die Frequenz wieder erhöht?

Spichtig: Anfang des 20. Jahrhundert unter Pius X. Er war es auch, der das Alter für den Kommunionempfangen auf sechs, sieben Jahre setze. Gleichzeitig wurde eingeschärft, dass man rein zur Kommunion gehen muss. Das führte leider zu einer extremen Häufung von Beichten im Zusammenhang mit der Eucharistiefeier. Das wurde ad absurdum geführt.

«Es darf nicht sein, dass etwas, was weltkirchlich gilt, als zweitrangig abkanzelt wird.»

Können Sie mir ein Beispiel nennen?

Spichtig: Meine Grossmutter erzählte mir mal, dass sie vor dem Gottesdienst den Schoppen fürs Baby probierte. Sie musste prüfen, ob dieser die richtige Temperatur hatte. Sie fragte sich dann ernsthaft, ob sie vor der Messe noch zur Beichte müsse, da damals noch die eucharistische Nüchternheit eingehalten werden musste.

Kommen wir wieder zurück in die heutige Zeit: Der Versöhnungsweg ist keine offizielle Form der Beichte in der katholischen Kirche.

Spichtig: Die deutschsprachige Kirchenautoritäten haben es noch nicht gewagt eine verbindliche Form der Versöhnungsfeier zu definieren. Wir sind jetzt offensichtlich in einem Entwicklungsprozess. Ich denke, dass die Bischöfe wissen, dass die klassische Ohrenbeichte irgendwo seine Grenzen hat. Dass man zulässt, dass es Prozessentwicklung gibt.

Braucht es keine Regel oder zumindest eine Empfehlung?

Spichtig: Das ist eine Erwartungshaltung, die man haben kann. Aber wir sind in einer komplexen, multikulturellen Realität. Auch in der Schweiz merken wir, dass es in den verschiedenen Sprachregionen unterschiedliche Geschwindigkeiten gibt. Es darf nicht sein, dass etwas, was weltkirchlich gilt, als zweitrangig abkanzelt wird. Wenn dann müsste man versuchen eine komplementäre Methodik zu entwickeln, dass verschiedene Wege möglich sind. Jetzt schon gibt es selten nur eine Form für ein gültiges Sakrament. Ich denke, dass es viel wichtiger wäre, darüber nachzudenken, wie Sakramentenpastoral in multikulturellen Gesellschaften gelingt.

*Peter Spichtig (55) ist Mitarbeiter des Liturgisches Institut der deutschsprachigen Schweiz und Sekretär der Liturgiekommission der Schweizer Bischofskonferenz.


Peter Spichtig, Dominikaner, als Kantor beim Trauergottesdienst für seinen Mitbruder Hubert Niclasse | © Barbara Ludwig
28. April 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!