Gerettete Flüchtlinge auf einem Schiff der italienischen Küstenwache
Schweiz

Peter Niggli: Boote, die untergehen, schützen Europa vor Flüchtlingen

Bern, 23.4.15 (kath.ch) Nur halbe Schritte erwartet der Geschäftsleiter von Alliance Sud, Peter Niggli, vom aktuellen EU-Gipfel zu Flüchtlingstragödien im Mittelmeer. Der Kontinent zeige sich betroffen. Gleichzeitig habe er aber «Angst, dass, wenn die Boote nicht mehr untergehen, zu viele Flüchtlinge den Weg nach Europa suchen», sagte Niggli am Donnerstag, 23. April, gegenüber kath.ch. Wie Caritas Schweiz ruft er den Bundesrat auf, die finanzielle Hilfe für die Versorgung der Flüchtlinge aufzustocken.

Georges Scherrer

Die Arbeitsgemeinschaft der Schweizer Hilfswerke Alliance Sud fordert legale Einwanderungsmöglichkeiten für Menschen, die von ausserhalb der Europäischen Union kommen. Zurzeit können nur Milliardäre oder Spezialisten legal aus anderen Kontinenten nach Europa einreisen, erklärt Peter Niggli. Den übrigen Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika bleibe der Schengenraum verschlossen. Deshalb kommen sie als «irreguläre» Einwanderer und suchen Asyl in einem Schengenstaat, also auch der Schweiz. Dieser «Ausschluss» müsse gelockert werden.

Die aktuelle Krise werde durch den Bürgerkrieg in Syrien, den neuen Bürgerkrieg im Irak und die allgemeine Destabilisierung im Nahen Osten verschärft. Millionen von Menschen sind in den Libanon, nach Jordanien, in die Türkei und in die kurdischen Gebiete des Irak geflohen. Diese Länder und Regionen benötigten mehr Hilfe, als im Moment fliesst. Dem Ruf des UNHCR, der zuständigen Behörde für die Flüchtlinge, nach mehr Hilfsgeldern werde nur teilweise entsprochen. «Auch die Schweiz kann in diesem Bereich mehr leisten», so Niggli: Der Bundesrat sollte einen Zusatzkredit von 50 Millionen für die Versorgung der Flüchtlinge vor Ort beantragen und damit seine Hilfe auf 100 Millionen Franken aufstocken.

Ein langer Prozess

Halbherzig kann der Alliance Sud-Geschäftsleiter dem Vorschlag des Vorsitzenden der kenianischen Bischofskonferenz, Kardinal John Njue, folgen, Europa solle in Afrika Arbeitsmöglichkeiten schaffen und auf diese Weise den Flüchtlingsstrom eindämmen. «Wenn es so einfach wäre, diese Arbeitsplätze zu schaffen, oder wenn Kenia sich derart industrialisiert hätte wie China, dann gäbe es sicher weniger Flüchtlinge.»

Die Entwicklungszusammenarbeit ziele darauf hin, Arbeitsplätze zu schaffen. Das erweise sich aber als langwieriger Prozess und sei keine kurzfristig wirksame Antwort auf die Krise.

«Im Mittelmeer wird ständig gestorben»

Vor zwei Jahren besuchte Papst Franziskus die Flüchtlingscamps auf Lampedusa und rüttelte Italien auf. Das sorgte für Schlagzeilen. Der Untergang eines Flüchtlingsschiff am Wochenende, der vermutlich 900 Menschen das Leben kostete, sorgt wiederum für einen Medienhype. «Dazwischen ist es aber ruhiger, obwohl die Katastrophe anhält. Im Mittelmeer wird ständig gestorben», sagt Niggli.

Nach dem Besuch des Papstes auf der Mittelmeerinsel begann die italienische Marine die Aktion «Mare nostrum». Diese rettete Tausenden von Flüchtlingen vor dem Ertrinkungstod. Sofort wurde aber in Europa Kritik laut: «Mare nostrum» sei so effektiv, dass sie noch mehr Flüchtlinge anziehe. Sie wurde deshalb im Oktober letzten Jahres eingestellt. Dann übernahm die Agentur Frontex, die «gemeinsame Grenzabwehr der EU», die Operation. Kontrolliert werden seit vergangenem Jahr nur noch die küstennahen Gewässer zu Italien. «Es werden viel weniger Flüchtlinge gerettet, was man bewusst in Kauf genommen hat.» Darüber rede heute in der europäischen Politik niemand mehr.

Nur «einen halben Schritt»

Bei dem aktuell in Brüssel laufenden Krisentreffen der Staats- und Regierungschefs der EU, welche Lösungen für das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer erarbeiten wollen, werde Europa nicht zum Standard von «Mare nostrum» zurückkehren, erklärt Niggli. Seine Prognose: «Man macht einen halben Schritt.» Einerseits zeige sich Europa betroffen, andererseits habe man «Angst, dass, wenn die Boote nicht mehr untergehen, zu viele Flüchtlinge den Weg nach Europa suchen».

Bis zum Sturz von Ghadafi habe Europa, wie Peter Niggli erläutert, mit einem grossen finanziellen Aufwand den libyschen Diktator dazu angehalten, «die Flüchtlinge aufzuhalten. Sein Regime hat sie eingesperrt, misshandelt oder auf dem Schwarzmarkt als Billigstarbeitskräfte ausgenützt.» Das neuste Bestreben der europäischen Länder ziele darauf hin, in den nordafrikanischen Ländern «Fluchtorte» beziehungsweise Lager einzurichten, wo die Menschen abgefangen werden können. Einem minimalen Prozentsatz würde dann vielleicht erlaubt, Asylanträge einzureichen, der Rest bleibe sich selber überlassen. Allerdings fehle es bisher «verständlicherweise den Ländern Nordafrikas an der Bereitschaft, hierzu Hand zu bieten».

Entwicklungsgefälle beheben

Das aktuelle Brüsseler-Treffen werde möglicherweise dazu führen, dass etwas mehr Hilfsgelder fliessen und Hilfsaktionen im Mittelmeer etwas ausgeweitet werden, um Menschen aus Seenot zu retten. «Eine grundsätzliche Lösung ist nicht in Sicht und es wird keine geben, solange zwischen Europa und dem Süden ein derart grosses Entwicklungsgefälle herrscht.»

Das werde sich nur sehr langsam ändern. Die Entwicklungsländer, welche in den vergangenen Jahrzehnten den «falschen wirtschaftspolitischen Rezepten Europas und der USA folgten», kamen laut Niggli wirtschaftlich praktisch nicht vom Fleck. Jene, die eine eigenständige Politik verfolgen konnten, also die meisten südostasiatischen Staaten, Indien und China, machten hingegen grosse Fortschritte. Der Experte gibt aber zu bedenken, dass auch aus dem vergleichsweise reichen China Flüchtlinge kommen. Wofür, wie China zeige, repressive Regierungen und die Verfolgung von Minderheiten verantwortlich seien. (gs)

Gerettete Flüchtlinge auf einem Schiff der italienischen Küstenwache | © KEYSTONE Lino Azzopardi
23. April 2015 | 17:46
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Caritas lanciert Appell an Bundesrat

Einmal mehr haben Hunderte von Flüchtlingen im Mittelmeer ihr Leben verloren. Und einmal mehr ist nach dieser Katastrophe offenkundig, dass eine Flüchtlingspolitik scheitert, wenn sie in erster Linie auf geschlossene Grenzen und auf Abschreckung setzt, schreibt das katholische Hilfswerk Caritas Schweiz.

Caritas Schweiz wendet sich darum mit einem öffentlichen Appell an den Bundesrat sowie an den National- und Ständerat. Es brauche endlich eine realistische und zugleich humanitäre Flüchtlingspolitik, die sich nicht von nationalen Egoismen leiten lasse, sondern sich europaweit der verdrängten Katastrophe im Mittelmeer stelle. Mit dem Appell können die Unterzeichnenden die drei Forderungen, welche das Hilfswerk an den Bundesrat richtet, unterstützen.

Amnesty International fordert in einer Petition, dass die europäischen Staaten Such- und Rettungseinsätze finanzieren, um weitere Tragödien im Mittelmeer zu verhindern. (gs)