Ruedi Beck, Pfarrer von St. Leodegar in Luzern
Schweiz

«Nehme Bereitschaft wahr, zu Flüchtlingen grosszügiger zu sein»

Der Luzerner Pfarrer Ruedi Beck und weitere Unterstützer haben einer Frau aus Tschetschenien und ihrer Tochter Kirchenasyl gewährt. Nach deren Ausweisung nach Belgien blickt er zurück. Das Engagement soll weitergehen.

Ueli Abt

«Die Frau tut mir extrem leid», sagt Ruedi Beck. Aus Sicht des Pfarrers von St. Leodegar in Luzern hätte die Tschetschenin einen Orden verdient. In ihrer schwierigen Lage habe sie in den letzten Monaten in der Schweiz stets das beste für ihr Kind getan: Die 53-Jährige habe sie täglich von der Schule abgeholt, viel mit ihr unternommen, an Freiwilligenaktionen teilgenommen, die Gesellschaft mit anderen Menschen gesucht.

Die Tochter besuchte in Luzern laut Beck eine heilpädagogische Schule. Die heute Zwölfjährige, die seit ihrem dritten Lebensjahr mit ihrer Mutter heimatlos durch Europa irrt, sei stark traumatisiert und habe eine eingeschränkte Lernfähigkeit. Sie brauche besondere schulische Betreuung.

Strikt nach Dubliner Abkommen

Die Festnahme durch die Polizei erfolgte aus heiterem Himmel. Kurze Zeit später wurden die beiden nach Belgien abgeschoben, dem Land, wo die Mutter früher ein Asylgesuch eingereicht hatte. So sieht es das Dubliner Abkommen vor.

«Ein grosser Rückschritt», sagt Beck. Ein psychiatrisches Gutachten liege vor. Gemäss diesem brauche das Mädchen dringend ein stabiles Umfeld. Dass es sich um einen Härtefall handelt, ist für Beck klar.

Doch der Vollzug des Gesetzes hat nun eine neue Realität geschaffen: Entwurzelung statt Konstanz. Deutsch hatten die beiden nach Monaten in Deutschland und in der Schweiz längst gelernt. Und nun ein erzwungener Neuanfang – diesmal im flämischen Sprachraum.

Angst, von Landsleuten aufgespürt zu werden

Eine schwierige Familiensituation steht am Anfang dieser Flucht. Sowohl Mutter wie auch die damals dreijährige Tochter erlebten Gewalt und Misshandlungen. 2010 entschied sich die Mutter, das Land zu verlassen. Aus der schriftlich festgehaltenen Fluchtgeschichte geht hervor, dass die Frau nicht auf rechtsstaatliche Hilfe zählen konnte, aufgrund der Nähe des Mannes zu einflussreichen Kreisen. In der muslimischen Familie des Mannes hatte sie eine schwache Position, weil sie einen nebst einem muslimischen auch einen christlichen Elternteil hat. Aus Angst, im Ausland durch Landsleute aufgespürt und verfolgt zu werden, reiste sie im Verlauf ihrer Odyssee sowohl aus Belgien wie auch aus Deutschland Hals über Kopf ab.

Unterschlupf in Räumen der Kirchgemeinde

2017 kamen die beiden in die Schweiz. Um ein Haar hätten sie hier ein Asylgesuch stellen können. Um dies zu ermöglichen, hatten Beck und weitere Helfer eines Unterstützungskomitees in den letzten Monaten den beiden Flüchtlingen so genanntes Kirchenasyl gewährt: Flüchtlinge erhalten Unterkunft und Unterstützung in einer Räumlichkeit der Kirchgemeinde. Gemäss dem Dubliner Abkommen können Flüchtlinge, deren Ausschaffung während 18 Monaten nicht erfolgt, ein Asylgesuch in ihrem aktuellen Aufenthaltsland stellen – sofern sie in dieser Zeit nicht untertauchen.     

«Wir gingen davon aus, dass die Polizei die beiden nicht aktiv suchen würde.»

Beck und seine Helfer hatten denn auch von Anfang an den Kontakt zur Luzerner Regierung und zum Migrationsamt gesucht und diese über das Kirchenasyl informiert. Die Behörden hätten stets betont, dass das Gesetz eingehalten werden müsse und dass sie die Ausweisung vollziehen müssten.

«Wir gingen davon aus, dass die Polizei die beiden nicht aktiv suchen, sie also nicht zur Fahndung ausschreiben würde», so Beck. Laufend habe man im Team diskutiert, wieviel Vorsicht nötig sei, um das Risiko einer Verhaftung so weit wie möglich zu verringern. «Die beiden hätten nicht monatelang ständig im Haus bleiben können», so Beck. Man sei primär von der Gefahr ausgegangen, dass die Frau im Rahmen einer zufälligen Kontrolle gefasst werden könnte. «Das haben wir wohl falsch interpretiert», sagt Beck.

Kritik am Regierungsrat

Aus Becks Sicht hat die Polizei einfach ihren Job gemacht. Doch er kritisiert den Regierungsrat, der nach seinem Dafürhalten ganz einfach Gnade vor Recht hätte walten lassen können. «Die Luzerner Regierung hat nicht genau genug hingeschaut», sagt Beck.

«Die Gesetze sind für die Menschen da, nicht umgekehrt.»


Eine zu strikte Auslegung des Gesetzes findet er denn auch problematisch, ja unmenschlich. Nach seiner Grundüberzeugung sind Gesetze «total wichtig». Doch wenn Gesetze absolut umgesetzt würden, könne das tödlich sein. «Die Gesetze sind für die Menschen da, nicht umgekehrt», sagt Beck.

Es liegt aus Becks Sicht auch in der Verantwortung einer Regierung, die Bevölkerung beim Thema Flüchtlinge zu sensibilisieren auf die Herausforderungen der Zukunft. Es gelte, Ängste abzubauen statt zu schüren. «Eine Regierung hat eine riesige Verantwortung in Bezug darauf, wie man über diese Themen redet.»

Das Mantra, wonach man «nicht alle aufnehmen» könne, sei im Grunde überhaupt nicht einleuchtend. Dass die Schweiz noch weit mehr Flüchtlinge aufnehmen könnte, zeigten andere, ärmere Länder mit weit höherer Bevölkerungsdichte.

«Ich nehme in der Bevölkerung grosse Bereitschaft wahr, gegenüber Flüchtlingen grosszügiger zu sein», sagt Beck.

Aus seiner Sicht müsste man in der Schweiz denn auch mehr Geld investieren, so etwa in die Asylunterkünfte. Beck, der schon an seinem früheren Wirkungsort, im multinationalen Kleinbasel, für und mit Flüchtlingen arbeitete, hat Einblick in die Wohnverhältnisse von Asylsuchenden, die er als oftmals «katastrophal» beschreibt. 

Mehr Geld bräuchte es aus seiner Sicht auch bei der Nothilfe. Diese Beträge würden tendenziell laufend heruntergekürzt. In gewissen Kantonen betrügen sie inzwischen weniger als 10 Franken pro Tag.

Seit in Schweizer Botschaften kein Asylgesuch mehr eingereicht werden könne, gebe es keine legalen Fluchtwege mehr, kritisiert Beck. Zu restriktiv findet er auch die Liste der als nicht sicher geltenden Länder. Die Einschätzung, dass Eritrea ein sicheres Land sei, bringe viele dazu, in Europa unterzutauchen. «Wir produzieren Menschen, die psychisch immer kränker werden», so Beck.

Weiter in Kontakt via WhatsApp

Untertauchen würde wohl aus Becks Sicht auch die tschetschenische Mutter mit ihrer Tochter, falls ihr Asylantrag in Belgien abgelehnt würde.

Leute aus dem Unterstützungskomitee stehen in täglichem Kontakt mit den beiden, via WhatsApp. Während einer ersten Nacht seien sie auf sich selbst gestellt geblieben. Inzwischen seien sie in eine Asylunterkunft eingetreten. «Wir hoffen, dass sich ihre Situation verbessert. Sie brauchen eine kleine Wohnung.»

Gegen einen negativen Asylentscheid wollen die Unterstützer aus der Schweiz mit Hilfe eines Anwalts ankämpfen. Inzwischen habe man einen solchen finden können, der die beiden in Belgien vertreten werde. Ein abschlägiges Urteil werde man sicher bis auf europäische Ebene weiterziehen, sofern das Geld reiche. Man sei dafür auf Spenden angewiesen.

Ruedi Beck, Pfarrer von St. Leodegar in Luzern | © Ueli Abt
15. November 2019 | 12:21
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Tochter eingeschüchtert und verängstigt

Nach der Ausschaffung einer 53-jährigen Tschetschenin und ihrer Tochter bereitet die katholische Kirche Luzern ein Protestschreiben an die Luzerner Regierung vor, das von weiteren Unterstützern unterzeichnet werden kann.

«Wir sind fassungslos und empört über die gewaltsame Ausschaffung der 12-jährigen Dana und ihrer Mutter nach Belgien. Wir protestieren gegen das unverhältnismässige Vorgehen und sind sehr enttäuscht, dass die Luzerner Regierung mit einer Härte – die ihresgleichen sucht – gegen die Familie vorgegangen ist», heisst es im Brief an die Regierung.  

Weiter verlangt der Brief eine Erklärung der Luzerner Regierung zu diesem Vorgehen. In der Präambel der Bundesverfassung heisse es, «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen» – die Regierung habe mit der Ausschaffung dem Geist der Bundesverfassung zuwider gehandelt. Das Kindeswohl müsse in den Mittelpunkt gestellt werden. Das Schreiben soll am Mittwoch, 20. November vor dem Regierungsgebäude der Regierung übergeben werden.  

Gemäss Angaben von Nicola Neider, Zuständige für Migration und Integration bei der Katholischen Kirche Stadt Luzern, war die jüngste Ausschaffung offenbar eine zusätzliche, erhebliche Belastung für die Tochter. Diese befinde sich aktuell zusammen mit der Mutter in einem Erstaufnahmezentrum. «Dana leidet unter sehr grossen Ängsten, vor allem aufgrund der sehr einschüchternden Umstände während der Ausschaffung», teilt Neider mit. Sie klammere sich nur an ihre Mutter und nehme bislang gar keinen Kontakt zu den anderen Kindern auf. «Sie schläft sehr schlecht und ist sehr schreckhaft», so Neider. (uab)