Papst Franziskus im Gebet.
Vatikan

Nach Missbrauchsskandalen fordert Franziskus neues Denken in der Kirche

Rom, 22.8.18 (kath.ch) Nach Berichten über grosse Missbrauchsskandale in den USA und Chile in diesem Sommer steht auch der Papst unter Druck. Er reagiert mit einem einmaligen Schritt: Am Montag veröffentlichte er einen «Brief an das Volk Gottes».

Roland Juchem

«Mit Scham und Reue geben wir als Gemeinschaft der Kirche zu, dass wir nicht dort gestanden haben, wo wir eigentlich hätten stehen sollen und dass wir nicht rechtzeitig gehandelt haben, als wir den Umfang und die Schwere des Schadens erkannten», heisst es in dem knapp vierseitigen Schreiben. Gerichtet ist er «an das Volk Gottes» – also an die gesamte Kirche.

Von Betroffenheit geprägt

Das von Betroffenheit geprägte Schreiben betrifft nicht nur die USA, wo es unlängst wieder mal einen beschämenden Bericht über ein Dreivierteljahrhundert Missbrauch und Vertuschung mit rund 1000 Opfern gab. Er zielt nicht nur auf Irland, wohin der Papst am Wochenende reist und das sich seit Jahrzehnten mit einer weit verzweigten Missbrauchsgeschichte auseinandersetzt. Er bezieht sich auch nicht nur auf Chile, wo die Missbrauchskrise weiter schwelt und wo Franziskus zunächst falsch reagierte.

Franziskus ruft alle Getauften zum Kampf gegen das Übel auf.

Der Papst meint diesmal die ganze Kirche. Zwar hatte Franziskus bereits im April an die chilenischen Bischöfe geschrieben, im Mai dann «an das Volk Gottes in Chile». An diesen Brief erinnert der Jetzige in Art und Ansatz. Benedikt XVI., der den Kampf gegen den Missbrauch erheblich verschärft hatte, schrieb bereits 2010 einen ähnlichen Brief an die irischen Katholiken. Zur Beendigung der Missbrauchskrise setzte er vor allem auf die Bischöfe. Franziskus ruft nun alle Getauften zum Kampf gegen das Übel auf.

Bischöfe als Teil des Problems

In den USA hatten sich Bischöfe als Teil des Problems erwiesen: Ausgerechnet ein Verfasser der vor 15 Jahren lauthals verkündeten «Null-Toleranz-Politik», der damalige Washingtoner Kardinal Theodore McCarrick, wird inzwischen selbst des sexuellen Missbrauchs verdächtigt. Und sein Nachfolger Donald Wuerl steht im Verdacht, einst als Bischof von Pittsburgh in Pennsylvania nicht hart genug gegen Missbrauchstäter vorgegangen zu sein.

Es droht ein Flächenbrand, den der Papst eindämmen will.

Nach dem Bericht aus Pennsylvania und vor dem Papstbesuch in Dublin ist das Kardinalskollegium alarmiert. Der Bostoner Kardinal Sean O’Malley, Präsident der Kinderschutzkommission des Papstes und ein Hardliner bei der Missbrauchsbekämpfung, hat seine Teilnahme am Weltfamilientreffen in Dublin abgesagt. Wenig später folgte, aus anderen Gründen, die Absage Wuerls. Es droht ein Flächenbrand, den der Papst mit seinem spektakulären Brief eindämmen will.

Entschuldigungen reichen nicht mehr

Es reiche nicht mehr, sich zu entschuldigen, predigte am Sonntag Dublins Erzbischof Martin. «Die Katholiken haben ihre Geduld mit uns verloren, und die Gesellschaft hat ihr Vertrauen in uns verloren», warnte O’Malley in Boston.

In seinem Brief versucht Franziskus nun, die Sache ins Positive zu wenden. Der Schrei der Opfer sei stärker gewesen «als die Massnahmen all derer, die versucht haben, ihn totzuschweigen». Das gilt auch ihm selbst. Noch im Januar hatte er Anschuldigungen gegen Priester und Bischöfe in Chile als Denunziation abgetan. Nun aber stellt er sich auf die Seite der Opfer.

Mit den Vorwürfen wegen Vertuschung sind in vielen Fällen Bischöfe gemeint.

Den Missbrauch nennt der Papst nicht nur «Sünde», sondern «Verbrechen». Und er schreibt: Diese «Wunden verjähren nie.». Dann zitiert er das Lukasevangelium: Gott «zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.» Damit meint der Papst diesmal Kirchenobere. – In einem Kommentar stellt Vatikansprecher Greg Burke klar, dass mit den Vorwürfen wegen Vertuschung in vielen Fällen Bischöfe gemeint seien.

Falsch verstandene Autorität

Gegen Klerikalismus hat Franziskus schon oft gewettert; zuletzt bei einem Treffen mit italienischen Jugendlichen, die ihn nach den Ursachen für Kirchenskandale fragten. Klerikalismus beruhe auf einem falschen Verständnis von Autorität – «sehr verbreitet in zahlreichen Gemeinschaften, in denen sich Verhaltensweisen des sexuellen Missbrauchs wie des Macht- und Gewissensmissbrauchs ereignet haben», schreibt der Papst jetzt.

Das ist gemünzt auch auf Gemeinschaften wie die Legionäre Christi, die sich in einem schmerzlichen Prozess von ihrem sexualpathologischen Gründer Marcial Maciel (1920 – 2008) lossagen mussten. Oder auf die «Sodalicio»-Gemeinschaft in Peru, die Franziskus im Frühjahr unter eigene Aufsicht stellte.

Franziskus spricht viel von Fasten, Busse und Gebet.

An der Umkehr und dem Ausweg aus einer solchen Kultur des Klerikalismus, des Wegschauens und Vertuschens muss sich laut Franziskus jeder Christ beteiligen. Sonst werde es keine «gesunde und wirksame Umgestaltung» geben. An dieser Stelle spricht er viel von Fasten, Busse und Gebet. Manche Kommentatoren vermissen konkrete Massnahmen.

Gesetze reichen nicht

Ein solcher Brief wäre indes kaum der richtige Ort, neue Paragrafen im Kirchenrecht einzuführen oder neue Fortbildungsrichtlinien. Dass all das nötig ist, davon gehen Experten aus. Aber – so warnt der vatikanische Kinderschutzexperte und Psychologe Hans Zollner – Gesetze und Vorschriften allein reichen nicht. Es brauche einen Mentalitätswandel in der ganzen Kirche. Und deswegen schrieb der Papst diesen Brief. (cic)



Papst Franziskus im Gebet. | © Oliver Sittel
22. August 2018 | 07:11
Lesezeit: ca. 3 Min.
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