Netflix hat die Geschichte von Emanuela Orlandi mit "Vatican Girl" verfilmt.
Vatikan

Mutmassungen um Emanuela Orlandi: Papst Franziskus nimmt Johannes Paul II. in Schutz

Mafia und sexueller Missbrauch: Der Bruder der 1983 verschwundenen Emanuela Orlandi deutet schwere Vorwürfe gegen Papst Johannes Paul II. an. Der sonst eher schweigsame Vatikan reagiert prompt und auch Papst Franziskus schaltet sich ein.

Severina Bartonitschek

Seit 40 Jahren erregt der Fall um das Verschwinden der Vatikan-Bürgerin Emanuela Orlandi die Gemüter. In Fernsehsendungen und Zeitungsartikeln verfolgt ein ganzes Volk gebannt jede Information zu einem der rätselhaftesten Kriminalfälle der jüngeren italienischen Geschichte.

Graböffnung auf dem Friedhof Campo Santo Teutonico im Vatikan auf der Suche nach Überresten von Emanuela Orlandi, 2019.
Graböffnung auf dem Friedhof Campo Santo Teutonico im Vatikan auf der Suche nach Überresten von Emanuela Orlandi, 2019.

Meist im Mittelpunkt: Pietro Orlandi, der grosse Bruder von Emanuela. Der heute 66-Jährige war der letzte in der Familie, der Emanuela vor ihrem Verschwinden sah. Seit Jahrzehnten wirbt er öffentlichkeitswirksam für Aufklärung.

Orlandis Bruder prescht vor

Nun ist der Römer in den Augen vieler Lands- und vor allem Kirchenleute über das Ziel hinausgeschossen. Zwischen ihm, seiner Anwältin und dem Vatikan ist ein Kampf um die Deutungshoheit ausgebrochen.

Pietro Orlandi, der Bruder des verschwundenen Vatikan-Mädchens Emanuela Orlandi
Pietro Orlandi, der Bruder des verschwundenen Vatikan-Mädchens Emanuela Orlandi

Am Sonntag schaltete sich Papst Franziskus ein. Der Grund: In einer italienischen Fernsehsendung vergangene Woche hatte Orlandi schwere Vorwürfe gegen Johannes Paul II. angedeutet – rückte ihn in die Nähe von organisiertem Verbrechen und sexuellem Missbrauch. Der polnische Papst war im Amt, als Emanuela am 22. Juni 1983 spurlos verschwand.

Das Verschwinden am 22. Juni 1983

An jenem Tag kehrte die damals 15-jährige Tochter eines Vatikan-Angestellten von ihrem Musikunterricht nicht nach Hause zurück. Seitdem gibt es, zuletzt auch in einer Netflix-Reihe, Gerüchte und Verschwörungstheorien: Es geht um Entführung, Erpressung, Beteiligung der Mafia oder vatikanische Sex- und Drogenpartys. Beweise fanden sich bislang ebenso wenig wie die sterblichen Überreste des Mädchens.

Die italienische Staatsanwaltschaft hat mehrere Male ermittelt und das Verfahren zuletzt im Oktober 2015 ergebnislos eingestellt. Anfang des Jahres nahm der neue Vatikan-Staatsanwalt Alessandro Diddi neue Ermittlungen auf, im Auftrag von Papst Franziskus. Es sei der starke Wunsch des Papstes und von Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, vorbehaltlos Klarheit zu schaffen, erklärte Diddi dazu in einem Interview. Ihm sei maximale Handlungsfreiheit gewährt worden mit der Auflage, nichts zu verschweigen.

Der Vatikan aus der Vogelperspektive
Der Vatikan aus der Vogelperspektive

Gespräche unter Anwälten

In diesem Zusammenhang traf sich der Vatikan-Staatsanwalt vergangene Woche mit Pietro Orlandi und seiner Anwältin. Acht Stunden lang dauerte das Gespräch, Orlandi, so erklärte er zuvor, wollte Dokumente und Namen möglicher Zeugen aus eigenen Ermittlungen weitergeben.

Darunter angeblich auch ein Tonband, das Orlandi nach dem Treffen im Vatikan in einer Talkshow vorspielte. Darin erhebt ein Mann, der dem organisierten Verbrechen nahestehen soll, schwere Vorwürfe gegen Papst Johannes Paul II., bringt ihn in direkte Verbindung mit dem Verschwinden von Emanuela.

Abendliche Papst-Ausflüge

Orlandi erzählte anschliessend, ihm sei von abendlichen Ausflügen des Papstes berichtet worden. Gemeinsam mit zwei polnischen «Monsignore-Freunden» soll dieser manchmal rumgefahren sein, weil er aufgrund des schweren Pontifikats «etwas Luft holen musste». Und, so Orlandi raunend, Johannes Paul II. sei sicher nicht durch die Stadt gezogen, «um Häuser zu segnen».

Papst Johannes Paul II. im Jahr 1979.
Papst Johannes Paul II. im Jahr 1979.

Obwohl Orlandis Anwältin Laura Sgro rasch zurückruderte und betonte, es sei nicht beabsichtigt gewesen, Anschuldigungen gegen irgendjemanden zu erheben, folgte bald eine Empörungswelle.

Als Erster ergriff der ehemalige Privatsekretär von Johannes Paul II., Kardinal Stanislaw Dziwisz, das Wort. Sprach von «schändlichen Unterstellungen», «von Anfang bis Ende falsch, unrealistisch, lächerlich bis an die Grenze der Komödie». Johannes Paul II. habe im Fall Orlandi von Anfang an gehandelt und nichts verheimlicht.

Vatikans Plädoyer für den ehemaligen Papst

Der Mediendirektor des sonst eher schweigsamen Vatikans, Andrea Tornielli, veröffentlichte ein brennendes Plädoyer für den 2005 verstorbenen Papst. Auf etwa einer Din-A4-Seite spricht er die Lesenden direkt an, vergleicht Johannes Paul II. mit einem bekannten, respektierten verstorbenen Verwandten. Fragt, wie sie sich fühlen würden, wenn im Fernsehen gegen ihren «Vater oder Grossvater» die Vorwürfe erhoben würden, nachts auszugehen und zusammen mit einigen «Spielkameraden» minderjährige Mädchen zu belästigten.

Andrea Tornielli, Chefredaktor von "Vatican News"
Andrea Tornielli, Chefredaktor von "Vatican News"

Tornielli prangert fehlende Beweise und Indizien für diese Aussagen an und spricht von einem «Medienmassaker», das «die Herzen von Millionen von Gläubigen und Nicht-Gläubigen gleichermassen verletzt». Jeder müsse sich für seine Verbrechen verantworten, «aber niemand hat es verdient, auf diese Weise verleumdet zu werden».

Anwältin verweigert Beweise

Erneut verstimmt reagierten der Vatikan und seine Medien, als sich Orlandis Anwältin bei einem Treffen mit dem Vatikan-Staatsanwalt am Samstag, bei dem sie Beweise für die schwerwiegenden Anschuldigungen hätte vorlegen können, auf ihr Berufsgeheimnis berief und schwieg. Um das Treffen habe die Anwältin «wiederholt öffentlich gebeten», heisst es in der Erklärung von Vatikansprecher Matteo Bruni. Als «unerwartet und überraschend» ordneten die Vatikanmedien ihr Schweigen ein.

Der Chef der Kommunikationsbehörde, Paolo Ruffini, verteidigte zudem die Berichterstattung seines Hauses gegen Vorwürfe der Anwältin. Sie hatte erklärt, eine von Vatican News gewählte Überschrift (»Anschuldigungen gegen Wojtyla. Pietro Orlandi und Anwalt Sgro weigern sich, Namen zu nennen») sei falsch.

Papst Franziskus am Palmsonntag auf dem Petersplatz
Papst Franziskus am Palmsonntag auf dem Petersplatz

Franziskus gedenkt des heiligen Johannes Paul II.

Rückhalt für Johannes Paul II. gab es am Sonntag dann auch von höchster Vatikan-Stelle. Nach dem Mittagsgebet auf dem Petersplatz sagte Papst Franziskus: «In der Gewissheit, die Gefühle der Gläubigen in der ganzen Welt zu deuten, richte ich einen dankbaren Gedanken an das Andenken des heiligen Johannes Paul II, der in diesen Tagen Gegenstand von verletzenden und haltlosen Behauptungen ist.» (cic)


Netflix hat die Geschichte von Emanuela Orlandi mit «Vatican Girl» verfilmt. | © Netflix
16. April 2023 | 14:29
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