Matthias Wenk, römisch-katholischer Radioprediger.
Schweiz

Matthias Wenk: «Gott hat das Heu mit uns Menschen auf der gleichen Bühne»

Heu und Stroh sind Zutaten der Weihnachtsliteratur. Radioprediger Matthias Wenk erinnert an das strohgebettete Kind in der Krippe. Aber auch an die Herausforderungen der Heiligen Nacht: etwa die Menschen, die von Belarus in die EU fliehen wollen.

Matthias Wenk*

Vielleicht haben ja auch Sie in den letzten Tagen, spätestens aber gestern Abend, eine Krippe aufgestellt, liebe Hörerin, lieber Hörer?! Und wahrscheinlich steht dann ja auch in Ihrer Krippe ein kleiner Futtertrog mit Stroh oder Heu gefüllt, in dem eine Babyfigur mit Windeln liegt? Der Klassiker.

Stroh im leeren, kalten und harten Futtertrog

So wird die Weihnachtsgeschichte meistens dargestellt: Stall, Maria und Josef mit dem Jesuskind, Futtertrog, Hirten, Schafe und etwas weiter entfernt, weil sie noch unterwegs nach Bethlehem sind, die drei Weisen aus dem Morgenland. Und: Engel nicht zu vergessen. Lukas und Matthäus erzählen uns davon in ihren Weihnachtsgeschichten. Von Stroh und Heu ist da zwar keine Rede, aber naheliegend ist es. Deshalb haben es Stroh und Heu auch zu festen Zutaten der Weihnachtsliteratur gebracht.

«Da liegt es, das Kindlein, auf Heu und auf Stroh…» Ein warmes, beschauliches Bild. Natürlich muss das Jesuskind weich liegen, auf Heu, auf Stroh. Maria und Josef können es ja nicht einfach in einen leeren, kalten und harten Futtertrog betten.

Heu und Stroh als spirituelle Übung

Mir kommt da eine ganz besondere Art Adventskalender in den Sinn. Als Kind wurde mir dieser Adventskalender im Religionsunterricht als eine Art spirituelle Übung empfohlen: Für jede gute Tat, die mir während des Advents gelungen ist, sollte ich in eine leere Futterkrippe einen Strohhalm legen. Diese Übung war mit dem Ziel verbunden, dass das Jesuskind am Heiligen Abend in meiner Krippe natürlich weich liegen sollte.

Wenn ich meiner Mutter beim Abwaschen geholfen hatte, konnte ich einen Strohhalm in die Krippe legen. Oder weil ich ohne grosse Diskussion zügig meine Hausaufgaben erledigt hatte…  …schon lag wieder ein Strohhalm mehr in der Krippe. Grossi die Einkäufe in Wohnung getragen… …noch ein Strohhalm. Den Ministrantendienst in der Frühmesse um 6 Uhr morgens für einen Kollegen übernommen… …gab einen weiteren Strohhalm. So sammelte sich Strohhalm um Strohhalm in meiner Krippe. Sie können sich vorstellen, wie stolz ich am Heiligen Abend war, als dann endlich das Jesuskind weich in der Krippe schlummern konnte, die von meinen guten Taten ausgepolstert war.

Heu und Stroh – die Pikser im Schlaf

Viel später, als Erwachsener, habe ich dann selbst einmal im Stroh übernachtet. Vielleicht haben Sie das auch schon?! Für mich war diese Nacht allerdings nicht wirklich angenehm. Ich hatte auch schon mal bequemer geschlafen. Weich war es. Doch immer wieder hat mich das Stroh gepikst! In dieser Nacht im Stroh kam mir der Strohhalm-Krippen-Adventskalender meiner Kindheit in den Sinn. Und ich bekam ein schlechtes Gewissen: Ob das Jesuskind in meiner Krippe wohl auch immer wieder durch Stroh-Pikse aus seinem wohlverdienten Schlaf gerissen wurde?!

Ob das, was ich mit bestem Wissen und Gewissen als gute Tat eingeordnet hatte, Jesus tatsächlich um den Schlaf bringen könnte?! Warum?! Weil ich meine gute Tat vielleicht gar nicht aus einer so lauteren Absicht getan habe?! Sondern einfach darum, damit ich einen Strohhalm in die Krippe legen und mich zutiefst zufrieden mit mir selbst fühlen konnte?! Kann das das Ziel einer spirituellen Übung sein? Für mich darf Glaube kein Leistungssport sein! Nach dem Motto: Yeah, ich habe meine Krippe randvoll mit Stroh; wegen mir kann das Jesuskind wohlig-weich liegen.

Das Jesuskind um den Schlaf bringen

Ich glaube vielmehr, das völlig unvoreingenommene Baby in der Krippe inspiriert mich zur Ehrlichkeit – ihm gegenüber, meiner Mitwelt gegenüber und mir gegenüber. Es motiviert mich dazu, Gutes zu tun um des Guten willen, um der Welt willen – einfach, weil es gut ist. Mit dem Baby in der Krippe sagt mir Gott: «Ich bin deine Welt. Wenn du der Welt Gutes tust, tust du mir Gutes!» So füllt sich die Krippe wie von selbst…

Und dann hat sich mir in dieser Nacht im Stroh noch eine weitere Frage in meine Gedanken gepikst: Ist es vielleicht nicht sogar gut, dass das Jesuskind im Stroh nicht nur angenehm weich liegt, sondern von Zeit zu Zeit von einem Strohhalm um den Schlaf gebracht wird? Nicht dass ich es ihm wünschen würde – bei Gott nicht. Aber warum soll das göttliche Baby nicht mitbekommen dürfen, dass die Welt, in die es hineingeboren worden ist, nicht nur bequem ist?! 

Gott wird abhängig, schwach, bedürftig, wehrlos…

Mir gefällt die theologische Idee sehr, dass Gott Mensch wird. Ehrlich gesagt macht für mich christlicher Glaube nur deshalb wirklich Sinn! Nämlich weil mir nur so Gott wirklich nahekommt. Gott, eine von uns! Eine aus Fleisch und Blut, aus Freude und Leiden, aus Hoffen und Bangen, aus Glauben und Zweifeln, eine aus Himmel und Erde.

Ob dieser Glaubensinhalt wahr ist, ist für mich persönlich zweitrangig. Ich für meinen Teil kann es glauben, weil ich es glauben will, weil ich diese Vorstellung als unglaublich tröstend und aufrichtend empfinde! Dem christlichen Verständnis nach hat Gott so einen ganz neuen Weg gewählt, um bei den Menschen für die Liebe zu werben: Gott wurde ein Kind, wurde abhängig und schwach, der Liebe der Menschen bedürftig und wehrlos.

…und das Stroh pikst das Kind

Ja, das Stroh in der Krippe darf, ja muss das göttliche Baby in der Krippe piksen! Und ich glaube, wir dürfen ihm schon in seinem zarten Säuglingsalter zumuten, dass das menschliche Leben auch seine schweren und unangenehmen Seiten hat. Ich vermute, Gott war sich dessen durchaus bewusst, sonst wäre neben einem einfachen und für eine Geburt hygienisch fragwürdigen Stall sicher auch ein Himmelbett mit kuscheligen Kissen zur Wahl gestanden – oder Gott hätte die himmlischen Sphären gar nicht erst verlassen müssen.

Vielleicht wollen Sie ja dieses Jahr mit mir auch noch andere Strohhalme als üblich in die Krippe legen, damit das Jesuskind für sein Leben als Mensch gut gebettet ist?! Neben den Strohhalmen für all das Gute, das Sie und ich gerne tun, weil es unserer Mitwelt und unseren Mitmenschen guttut, lege ich noch einen Strohhalm für das dazu, was schwer ist im Leben, für die Menschen, die es schwer haben: für die, die in dieser Heiligen Nacht und an anderen Tagen und Nächten versuchen, über die Grenze zwischen Belarus und Polen nach Europa zu fliehen.

Mutter stirbt mit 45 Jahren an Krebs

Und ich lege auch einen Strohhalm für die Familie mit in die Krippe, die dieses Jahr zum ersten Mal ohne ihre Mutter Weihnachten feiert, weil sie im Oktober mit 45 Jahren an Krebs verstarb. Und dann kommt noch ein Strohhalm für die Menschen dazu, für die das Leben einfach kein Glück vorgesehen zu haben scheint, bei denen ich mich ständig fassungslos frage: «Warum schon wieder sie…?». Welche Strohhalme würden Sie noch dazu legen, liebe Hörerin, lieber Hörer?

Heute weiss ich: in der Krippe, in die wir das göttliche Baby betten, hat es Platz für Gutes und Schweres, hat es unendlich viel Platz für all unser menschliches Stroh! Gott hat nämlich das Heu mit uns Menschen auf der gleichen Bühne. Und das, das macht die Weihnacht überall und in jeder Situation zu einer «gesegneten» Weihnacht: die Krippe, in die sich Gott legt, ist unser Leben! Und so wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen «gesegnete Weihnachten», liebe Hörerin, lieber Hörer !

* Matthias Wenk ist römisch-katholischer Radioprediger und Seelsorger in St. Gallen.


Matthias Wenk, römisch-katholischer Radioprediger. | © Manuela Matt
25. Dezember 2021 | 05:02
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