«In der Sexualität und in der Spiritualität geht es um Hingabe»

Luzern, 19.1.18 (kath.ch) Anselm Grün (73), Benediktiner und Autor zahlreicher Bücher, spricht über Spiritualität, Sexualität und Sehnsucht. Er tut dies vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in der Begleitung von Menschen. Ein Gespräch darüber, was die Liebe befeuert und warmhält. Am 21. Januar referiert Grün in Luzern.

Urban Schwegler*

Im Christentum spielt die Nächstenliebe eine zentrale Rolle. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede zur Liebe zwischen zwei Menschen?

Anselm Grün: Das Gemeinsame ist, dass ich den andern wohlwollend annehme. Das Unterscheidende ist, dass in der Liebe zwischen zwei Menschen das Verliebtsein eine grosse Rolle spielt. Die Griechen würden sagen: Die Nächstenliebe ist «agape», also absichtslose Liebe. Die Liebe zwischen zwei Menschen ist immer vom «Eros» geprägt, von der Anziehung durch den andern.

Gibt es eine Liebe zu Gott ohne Liebe zum Menschen?

Grün: In der Bibel sagt schon Johannes in seinem ersten Brief, dass wir Gott nicht lieben können, wenn wir den Menschen nicht lieben. Ohne Liebe zum Menschen wäre die Liebe zu Gott eine Einbildung.

Wann gelingt eine Liebesbeziehung?

Grün: Die Liebesbeziehung gelingt, wenn ich mich selbst und den andern vorbehaltlos annehme. Alles, was ich aus der Beziehung heraushalte – etwa wenn ich Seiten in mir verdränge – das fehlt an der Liebe. Die Liebe fliesst nur zwischen uns, wenn wir alles dem andern hinhalten und uns in allem, was in uns ist, dem andern öffnen.

Ohne Liebe zum Menschen wäre die Liebe zu Gott eine Einbildung.

Verändert sich der Liebesglanz einer Partnerschaft mit der Zeit?

Grün: Natürlich verändert sich der Liebesglanz. Die emotionale Dimension der Liebe wird schwächer. Es wird dann mehr eine Frage von Annehmen und Treue zum andern. Ich teile mit ihm das Leben.

Was können Paare tun, wenn die Liebe ihren Glanz verliert?

Grün: Auf der einen Seite sollen sie dankbar sein, dass sie miteinander den Weg weitergehen, dass die Liebe mehr den Aspekt der Treue und der Verbundenheit als den Aspekt emotionaler Hochgefühle zeigt. Aber sie können sich immer wieder an den Anfang ihrer Liebe erinnern.

Sie haben einmal gesagt, Sexualität sei «ein Antreiber für die Spiritualität». Wie ist das zu verstehen?

Grün: In der Sexualität und in der Spiritualität geht es um Hingabe, um die Bereitschaft, sich selbst loszulassen und dem andern hinzugeben. In der Mystik wird die Erfahrung Gottes und die Erfahrung Jesu immer in einer erotischen Sprache beschrieben.

Es gibt keine Liebe ohne Sehnsucht.

Liebe hat viel mit Sehnsucht zu tun. Menschen sehnen sich nacheinander. Kann es Liebe geben ohne Sehnsucht?

Grün: Nein, es gibt keine Liebe ohne Sehnsucht. Auch wenn die Liebe noch so stark ist, wird sie nie ganz unsere Sehnsucht erfüllen. Jede erfahrene Liebe weckt in uns die Sehnsucht nach absoluter Liebe.

Kann ein Mensch die Sehnsucht leben, ohne Erfüllung in persönlicher Liebe zu finden?

Grün: Die Sehnsucht wird in uns angestachelt sowohl durch die Erfüllung in der Liebe als auch durch die Enttäuschung in der Liebe. Ganz ohne Liebe ist niemand. Wenn meine Sehnsucht nach Liebe nicht erfüllt wird, so spüre ich doch auf dem Grund meiner Seele Liebe und die Fähigkeit zu lieben.

Ich masse mir nicht an, kompetent über Sexualität zu schreiben.

Sie sind Mönch und leben zölibatär. Woher nehmen Sie die Kompetenz, qualifiziert über die Liebe in einer Paarbeziehung und sogar über Sexualität zu schreiben?

Grün: Ich masse mir nicht an, dass ich kompetent über Sexualität und Paarbeziehung schreibe. Ich schreibe auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen in der Begleitung. Und natürlich spüre ich das, was die Menschen mir in der Begleitung sagen, auch selbst in mir. Ich versuche, auf die Fragen zu antworten, die mir die Menschen stellen. Aber ich mache keine Theorie über Paarbeziehung und Sexualität.

*Urban Schwegler ist Leiter Fachbereich Kommunikation der katholischen Kirche der Stadt Luzern. Das Interview erschien zuerst im Pfarreiblatt der Stadt Luzern (2/2018).

Hinweis: «Liebe, Glanz und Gloria» – Über die Sehnsucht in der Liebe und in Beziehungen. Mit Anselm Grün und David Plüss (Musik). Sonntag, 21. Januar, 17.30, Johanneskirche Luzern.

 

Anselm Grün | © zVg
19. Januar 2018 | 11:40
Lesezeit: ca. 3 Min.
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