An der Hand eines Menschen aus dem Leben gehen.
Schweiz

«Ich fühlte mich nicht berufen, sie abzuhalten»

Die katholische Kirche lehnt Sterbehilfe ab. Trotzdem kommt es vor, dass Seelsorgende die Sterbewilligen bis zum Schluss begleiten. Warum, berichten drei Seelsorgerinnen in der kath.ch-Serie. Heute die pensionierte Religionspädagogin Beata Pedrazzini (66). Redaktorin Barbara Ludwig führte Protokoll.

«Dora Mueller* wohnte in einer Alterswohnung in dem Quartier, in dem ich als Pfarreimitarbeiterin und Seelsorgerin tätig war. Sie war nach dem Krieg als Dienstmädchen aus dem Ausland in die Innerschweiz gekommen, hatte geheiratet, bekam Kinder. Ihr Mann lachte sich später eine jüngere Frau an. Das Paar liess sich scheiden. Dora zog in die Stadt Luzern, bekam Depressionen. Ich kam über die Sozialarbeiterin der Pfarrei in Kontakt mit ihr. Wir versuchten, sie ins Quartierleben zu integrieren. Ein Engagement als Freiwillige für den ‘Mittagstisch’ drängte sich auf, weil sie eine sehr gute Köchin war. Sie half während Jahren.

«Ich war ein Tochterersatz für sie.»

Wegen des Mittagstischs sah ich sie jede Woche, es entstand eine sehr nahe Beziehung. Ich war ein Tochterersatz für sie. Zu den Kindern hatte sie entweder gar keinen Kontakt mehr oder aufgrund der Scheidung eine spannungsvolle Beziehung.

Beata Pedrazzini: "Es gibt ein freies Gewissen, das einem den Weg zeigt."
Beata Pedrazzini: "Es gibt ein freies Gewissen, das einem den Weg zeigt."

Zwei Mal bekam Dora Krebs, hatte starke Schmerzen. Zwischendurch hatte sie auch schwere Depressionen. Ohne dass ich es wusste, hatte sie vor längerer Zeit Kontakt mit Exit aufgenommen und war Mitglied geworden. Sie trug sich mit dem Gedanken, freiwillig aus dem Leben zu gehen. Das war schon entschieden, als sie mich fragte, ob ich sie begleiten würde. Sie hatte nebst mir noch eine andere Vertraute, die sie als Adoptivtochter bezeichnete. Wir beide waren schliesslich dabei.

«Dora war eine sehr fromme Katholikin.»

Dora war eine sehr fromme Katholikin. Es überraschte mich darum sehr, dass sie das machen wollte. Sie sagte mir immer: ‘Ich habe mit dem lieben Gott ausgemacht, dass ich mit Exit aus dem Leben gehe.’ Immer gab sie diese Antwort, wenn ich nachfragte, ob sie das wolle. Das Leben sei für sie eine Qual, sie habe keine Kraft mehr, so viele Schmerzen. So begründete sie ihren Entschluss. Sie wollte, dass ich in ihrer letzten Stunde ihre Hand halte und dass wir zusammen beten.

Ich sagte ihr: ‘Dora, ich werde traurig sein, wenn du nicht mehr bei uns sein wirst. Aber wenn das für dich der richtige Weg ist, bin ich dabei.’ Mehr habe ich nicht gemacht. Ich habe nicht versucht, sie davon abzuhalten. Ich habe nicht moralisiert und gesagt, die Kirche finde das schlecht. Das wusste sie selber. Es gibt sicher Fälle, wo es gut ist, jemanden vom Suizid abzuhalten. Aber in ihrem Fall fühlte ich mich nicht dazu berufen. Ich hatte sehr grossen Respekt vor ihrer individuellen Position und ihrem Glauben, der das zuliess.

«Ich hatte grossen Respekt vor ihrem Glauben.»

Im Vorfeld war mir etwas unheimlich zumute. Ich wusste: Am Donnerstag um halb sechs passiert es. Wir hatten abgemacht, dass ich eine Stunde früher komme. Zu wissen, Punkt dann findet es statt, ist der schwierigste Aspekt an der ganzen Sache. Das ist emotional eine Herausforderung. Als ich dann dort war, war dieses Gefühl weg.

Die Frau von Exit war sehr liebevoll, gut vorbereitet. Dora musste eine Infusion haben. Die Frau von Exit erklärte alles. Dora antwortete immer: ‘Ja, ich will das. Ich bin froh, jetzt zu gehen.’ Sie zweifelte keinen Moment. Ich auch nicht. Ich merkte: Sie will das. Der Arzt kam, setzte die Infusion und erklärte, dass sie selber den Schalter bewegen müsse.

«Dann sprach ich das Bruder-Klausen-Gebet.»

Ich hatte mich schon vorher ans Bett gesetzt und ihre Hand gehalten. Wir plauderten miteinander, auch der Arzt. Ich schaute zu, wie sie den Schalter bewegte und sich zurück aufs Kissen legte, mit ganz entspanntem Gesicht. Dann sprach ich das Bruder-Klausen-Gebet. Sie ging hinüber in eine andere Welt. Es war eine sehr sanfte Angelegenheit.

Unwürdig fand ich, was nachher abging. Uniformierte Polizisten kamen. Das gab Aufruhr in den Alterswohnungen, weil es fast alle mitbekamen. Das hatte Dora nicht gewollt. Dann kam der Amtsarzt, der Staatsanwalt. Die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung war voller Leute. Es herrschte Hektik, obwohl sie versuchten, ihre Arbeit in Ruhe zu machen. Am Schluss kamen die Bestatter. Das alles innerhalb einer knappen Stunde. Es war keine würdige Ruhe mehr.

«Unwürdig fand ich, was nachher abging.»

Trotz der Hektik blieb ich noch dort und versuchte, mich von ihr zu verabschieden. Dann ging ich ruhig nach Hause. In den darauf folgenden Wochen beschäftigte mich das Erlebnis stark. Aber es ist für mich klar, dass ich es wieder machen würde, wenn mich jemand darum bittet. Nicht grundsätzlich und in jedem Fall. Ich müsste immer mit dem betreffenden Menschen reden können und seine Motivation und sein Leiden verstehen.

«Ich verstehe die Haltung der Bischofskonferenz nicht!»

Das Zimmer verlassen, wenn ein Mensch verlangt, dass man bei ihm ist, finde ich absurd. In diesem Punkt verstehe ich die Haltung der Bischofskonferenz gar nicht! Es ist Aufgabe von Seelsorgenden, Menschen in allen Situationen zu begleiten, wenn es um Leben und Tod geht. Ich habe aber Verständnis, wenn ein Seelsorger das nicht kann oder will; es gibt ein freies Gewissen, das einem den Weg zeigt.»

*Name geändert.

Die von kath.ch befragten Seelsorgerinnen haben ihre Begleitung nicht im Auftrag einer Sterbehilfeorganisation angeboten, sondern weil sie von den betroffenen Menschen darum gebeten wurden.


An der Hand eines Menschen aus dem Leben gehen. | © Keystone
6. Juli 2020 | 11:50
Lesezeit: ca. 3 Min.
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Bischöfe setzen Grenzen

Wenn Seelsorgende sterbewillige Menschen auch im Moment des Suizids begleiten, handeln sie im Widerspruch zur offiziellen Haltung der Schweizer Bischöfe. Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) hat im Dezember vergangenen Jahres ein 36 Seiten starkes Dokument publiziert, das Seelsorgende im Hinblick auf den assistierten Suizid unterstützen soll. Darin heisst es unmissverständlich, der assistierte Suizid sei der Botschaft des Evangeliums «radikal» entgegengesetzt. Mit einem Suizid würden sowohl Pflichten gegenüber sich selbst, Pflichten gegenüber anderen als auch Pflichten gegenüber Gott verletzt.

Gleichwohl sind Seelsorgende gehalten, auch Menschen zu begleiten, die über einen assistierten Suizid nachdenken. «Wie auch immer die Entscheidung einer Person, die sich mit dem assistierten Suizid beschäftigt ausfällt, darf diese nicht von der kirchlichen Gemeinschaft im Stich gelassen werden», so das Dokument mit dem Titel «Seelsorge und assistierter Suizid. Eine Orientierungshilfe für die Seelsorge».

Der Begleitung setzen die Bischöfe allerdings Grenzen. «Im Moment des Suizids haben Seelsorgende die Pflicht, das Zimmer eines Patienten physisch zu verlassen», steht auf Seite 17 des Dokuments. Aus Sicht der SBK gibt es dafür mehrere Gründe. Darunter: «Der grundlegende objektive Grund ist, dass die Kirche Zeugnis ablegt für das Leben. Indem die Seelsorgerin ihre oder der Seelsorger seine Gegenwart im Moment eines willentlichen Suizids verweigert, gibt er ein Zeugnis für die Option der Kirche für das Leben.» Das Zimmer zu verlassen bedeute jedoch nicht, die Person zu verlassen.

Die von kath.ch befragten Seelsorgerinnen sehen dies anders. Sie haben das Zimmer nicht verlassen. Das heisst nicht, dass sie Sterbehilfe gutheissen. (bal)