Es ist Festival-Zeit: die Piazza Grande in Locarno.
Schweiz

Film Festival Locarno feiert 75. Geburtstag: Leisere Töne nach actionreichem Start

Nach dem Start mit dem Actionfilm «Bullet Train» schlägt das Programm des Internationalen Film Festival Locarno im zweiten Jahr unter der künstlerischen Leitung von Giona A. Nazzaro insgesamt leisere Töne an. Und es versucht, die Jugend fürs Kino zurückzugewinnen.

Irene Genhart

Mitten in der Pandemie hatte Giona A. Nazzaro im November 2020 die künstlerische Leitung des Locarno Film Festivals übernommen. Zum Ende der letztjährigen Ausgabe 2021 wusste man über den in Rom wohnhaften, aber in Zürich geborenen neuen Festivalchef vor allem zwei Dinge: Er redet sich mit italienischem Temperament gern in Rage und er mag Actionfilme. In seinem zweiten Jahr obliegt es Nazzaro nun, das 1946 gegründete Festival erfolgreich durchs 75-Jahr-Jubiläum zu führen.

Bombastischer Start

Er tut dies, seinem Gusto und Temperament entsprechend, indem er dem Publikum zum Auftakt einen Actionfilm präsentiert: «Bullet Train» von David Leitch mit Brad Pitt in der Hauptrolle. Damit dürfte es auf der Piazza Grande und in den umliegenden Strassen und Gassen zünftig krachen.

Ganz so bombastisch wie zum Auftakt dürfte es dann allerdings kaum weitergehen. Auf der Piazza stehen mit Olivia Newmans «Where the Crawdads Sing», Leon Prudovskys Dramödie «My Neighbor Adolf», Blandine Lenoirs «Annie Colère» und «Last Dance» von Delphine Lehericey eher stillere Filme auf dem Programm, die über persönliche Dramen gesellschaftliche Themen diskutieren.

Mehr Schweizer Beiträge

Auch Caterina Monas «Semret» um das Schicksal einer Eritreerin in der Schweiz und André Schäfers nicht ganz dokumentarischer Dokumentarfilm «Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit» schlagen leisere Töne an. Die drei letztgenannten sind Schweizer Produktionen oder Filme, die mit Schweizer Beteiligung entstanden sind. Zusammen mit Anne Guttos amerikanisch-deutsch-schweizerischer Co-Produktion «Paradise Highway» finden sich im Piazza-Programm damit insgesamt vier Schweizer Beiträge und damit mehr als die Jahre davor.

Zu den Piazza-Highlights gehören allerdings auch zwei ältere Produktionen: Laurie Andersons 1985 entstandene Musikdokumentation «Home of the Brave», mit Ausschnitten aus frühen Konzerten der Regisseurin, sowie Douglas Sirks «Imitation of Life» von 1958. Sirks Film gehört eigentlich allein seines Titels wegen schon auf die Piazza: so überlebensgross wie auf der riesigen Freiluftleinwand kommen Filme selten daher.

Douglas Sirks Gesamtwerk wird gezeigt

Tatsächlich hat man die Jubiläums-Retro Douglas Sirk gewidmet, dem grossen Melodramatiker des US-amerikanischen und deutschen Kinos. Gezeigt wird Sirks Gesamtwerk. Dies in Begleitung des französischen Filmhistorikers Bernard Eisenschitz, dessen Monografie «Douglas Sirk, né Detlef Sierck» gerade erschienen ist.

Laurie Anderson wird mit einem «Vision Award» für ihr Schaffen geehrt. Auf der Liste der Personen, die in Locarno dieses Jahr nebst Anderson einen Ehrenpreis in Empfang nehmen dürfen, stehen unter anderen die Namen von Matt Dillon, Produzent Jason Blum, Costa Gavras und die US-Independent-Filmerin Kelly Reichardt, die dem Festival sehr verbunden ist.

Krypto-Briefmarken zum Jubiläum

Aus Anlass des 75. Jubiläums hat man sich in Locarno einiges einfallen lassen. Etwa die Publikation des Buches «Locarno on / Locarno off: Geschichte und Geschichten des Film Festivals», das neben der offiziellen Chronik auch bisher unveröffentlichte Geschichten von hinter den Kulissen enthält. Oder eine unter dem Namen «Swiss Crypto Stamp 2.0» firmierende Serie von Krypto-Briefmarken, die sich mit Filmfragmenten von Schweizer Nachwuchsfilmern verbinden.

Auch wurden zehn Filmemachende, unter ihnen Fredi M. Murer, Andrea Staka und Cyril Schäublin eingeladen, für das Jubiläum unter dem Motto «Postcards from the Future» jeweils einen Kurzfilm anzufertigen. Die Filme werden im Rahmen des Festivals gezeigt.

Wettbewerbsbeitrag von Valentin Merz

Herzstück des Locarno Festivals ist aber auch in seinem 75. Jahr der «Concorso internazionale», in dessen Programm man Namen wie Nikolaus Geyrhalter, Alexander Sokurow und Ming Jin Woo findet. Die Österreicherin Ruth Mader zeigt ihren neuen Film «Serviam – Ich will dienen», Helena Wittmann stellt «Human Flowers of Flesh» vor; der einzige Wettbewerbsbeitrag aus der Schweiz ist «De noche los gatos son pardos» von Valentin Merz.

Nicht nur den Film, sondern auch das Kino in die Zukunft zu tragen, ist seit einigen Jahren Locarnos grosses Anliegen. So schreibt Nazzaro in seiner Einleitung zum Festivalprogramm, dass es 2022 nicht darum gehe, gross zu feiern, sondern sich im Bewusstsein des rasanten technischen Wandels den Herausforderungen der Zukunft zu stellen.

Junge Menschen gewinnen

Ähnliches meint der seit über 22 Jahren amtierende Präsident des Festivals, Marco Solari, wenn er sagt, man müsse mit Blick auf die Zukunft die ganz jungen Menschen von heute fürs Festival von morgen gewinnen, weil diese mit einem ganz anderen Verständnis für die bewegten Bildern aufwachsen. Wie lange er noch im Amt bleiben will, verrät der 77-Jährige, der in den letzten Jahren auf die entsprechende Frage gern mit «noch bis zum nächsten Jubiläum» antwortete, (noch) nicht.

Das Festival tut einiges, um ein junges Publikum zu finden. Nicht nur mit Workshops und Förderprogrammen wie «Filmmakers, Critics und Industry Academy», die sich an junge Filmprofessionelle richten. Sondern auch, indem es seit einigen Jahren parallel zum «Concorso internazionale» einen zweiten Wettbewerb gibt. Im «Concorso Cineasti del presente» werden ausschliesslich erste und zweite lange und in der Filmsprache oft auch innovativere Werke aufstrebender Filmschaffender gezeigt.

Neben zehn europäischen Produktionen laufen hier auch Filme wie «Our Lady of the Chinese Shop» von Ery Claver aus Angola, die australische Produktion «Petrol» von Alena Lodkina und «Arnold Is a Model Student» des Thailänders Sorayos Prapapan.

Workshops für Kinder

Dass man die Nachwuchsförderung – man  könnte auch sagen: die Erziehung zum Kino – in Locarno wirklich ernst nimmt, zeigt sich auch am wachsenden Engagement des Festivals für das jüngste Publikum. Man präsentiert den Kindern nicht nur ein spezielles Kinoprogramm, sondern bietet ihnen auch Workshops an.

Im Jubiläumsjahr waren die Kinder sogar noch vor den Erwachsenen dran. Im Rahmen eines Vorfestivals – einer als Dank an die in Locarno ansässige Bevölkerung durchgeführten Gratisvorstellung eines Filmes auf der Piazza Grande – wurde Alain Ughettos Trickfilm «Interdit aux chiens et aux Italiens» gezeigt. Der Film erzählt in hübscher Stop-Motion-Animation, wie eine italienische Familie aus dem Piemont aufbricht, um in einem fabelhaften Land namens Amerika ihr Glück zu suchen, dann aber in der französischen Provence hängenbleibt. (kna)


Es ist Festival-Zeit: die Piazza Grande in Locarno. | © Raphael Rauch
3. August 2022 | 16:44
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