Tamar Krieger: "Jüdisch zu sein ist Teil meiner Identität"
Schweiz

«Ein anderes Judentum vermitteln»

Luzern, 6.11.16 (kath.ch) Judentum, das heisst für Tamar Krieger schöne Musik, alte Traditionen und lehrreiche Texte, aber auch Gemeinschaft und Austausch mit anderen. Die liberale Jüdin lädt am 6. November im Kirchensaal MaiHof zur Begegnung mit dem Judentum ein. Die interreligiöse Feier «Zwischenhalt» ist eine Veranstaltung im Rahmen der Woche der Religionen, die in Luzern und schweizweit bereits seit zehn Jahren stattfindet.

Urban Schwegler 

Was bedeutet es für Sie, jüdisch zu sein?

Tamar Krieger: Jüdisch zu sein ist Teil meiner Identität. Es ist vielleicht nicht der stärkste Teil meiner Identität, aber doch existent. Es bedeutet für mich auch, eine Tradition aufrechtzuerhalten, die es weltweit und vor allem auch in der Schweiz nicht mehr so oft anzutreffen gibt. Nicht die Religion oder der Glaube steht für mich beim Judentum im Vordergrund, sondern die Gemeinschaft und die Tradition, die man zu spüren bekommt.

Welche Rolle spielt Ihre jüdische Religion im Alltag?

Meine Religion spielt im Alltag keine grosse Rolle. Ich bin nicht orthodox erzogen worden und halte mich daher auch nicht an die jüdischen Speisegesetze oder die Ruhe am Schabbat. Mir sind jedoch die jüdischen Feiertage wichtig, die ich im familiären Rahmen jeweils feiere. Das ist wohl auch der Grund, weshalb sie mir wichtig sind: Es ist eine gute Möglichkeit, mit der Familie an einem Tisch zu sitzen und gut zu speisen. An den Hohen Feiertagen (Neujahr und Versöhnungstag) besuche ich auch immer den Gottesdienst in der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Zürich.

Wie reagieren die Leute, wenn Sie erfahren, dass Sie Jüdin sind?

Häufig sind die Leute eher überrascht und interessiert – man kommt ja doch eher selten in Kontakt mit jüdischen Personen in der Schweiz und wenn doch, hat man wohl eher ein orthodox-jüdisches Bild im Kopf. Die Reaktionen sind aber weitgehend positiv. Interessanter ist es, wenn in einer Gruppe, die nichts von meinem Jüdischsein weiss, die Sprache auf Israel oder das Judentum kommt: Dort zeigt sich, dass es doch noch einige Vorurteile gegenüber Juden gibt und antisemitische Bilder in den Köpfen verankert sind.

Sie sind in der liberalen Gemeinde Zürich aktiv. Was motiviert sie zu diesem Engagement?

Ich bin selber in der Jüdisch Liberalen Gemeinde Or Chadasch aufgewachsen und habe dort den Religionsunterricht besucht. Ich war auch in meiner Jugendzeit Leiterin beim jährlichen Auffahrtslager. Die Gemeinde hat mir – nebst meinen Eltern – viel für meine jüdische Erziehung mitgegeben.

Je orthodoxer eine Ausrichtung ist, desto schwieriger ist der Dialog

Welche Aufgaben nehmen Sie in der jüdischen Gemeinde wahr?

Vor vier Jahren habe ich selber angefangen, den wöchentlichen Religionsunterricht in der Gemeinde zu geben. Nach zwei Jahren habe ich dann die Position als Vorsitzende der Schulkommission übernommen und bin seither auch im Vorstand der Gemeinde. Ich organisiere den wöchentlichen Religionsunterricht, Schulveranstaltungen und treffe in den Vorstandssitzungen Entscheidungen, welche die Gemeinde als Ganzes betrifft. Es steckt viel ehrenamtliche Arbeit dahinter und der Weg nach Zürich ist manchmal auch beschwerlich – aber ich kann auf diese Weise der Gemeinde etwas zurückgeben!

Zwischen liberalen und orthodoxen Juden gibt es ziemlich grosse Unterschiede, wie die jeweilige Gruppe ihren Glauben versteht und lebt. Gibt es einen innerjüdischen Dialog zwischen den verschiedenen Ausrichtungen des Judentums?

Es gibt teilweise einen innerjüdischen Dialog, der aber wiederum von den einzelnen Strömungen abhängig ist. In der Schweiz zum Beispiel arbeitet der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG), dem die meisten konservativen und orthodoxen Gemeinde angehören, eng mit der Plattform der Liberalen Juden in der Schweiz (PLJS ), dem Vertreter der drei liberalen Gemeinden, zusammen.

Menschen führen aus Angst vor Identitätsverlust nicht miteinander

Auch unsere Gemeinde hat teilweise mit anderen Gemeinden zu tun, vor allem auch in Zürich betreffend Sicherheitsfragen. Jedoch ist dieser Dialog nicht mit allen möglich. Je orthodoxer eine Ausrichtung ist, desto schwieriger ist der Dialog, würde ich behaupten.

Sie gestalten am 6. November den «Zwischenhalt» im Maihof. Was möchten Sie den Teilnehmenden als Ihre Botschaft mitgeben? Wie bereiten Sie sich darauf vor?

Mit der Veranstaltung «Zwischenhalt» möchte ich den Teilnehmenden vor allem ein anderes Judentum vermitteln, als es häufig in den Köpfen der Menschen verankert ist. Das Judentum besteht aus schöner Musik, alten Traditionen und vielen interessanten und lehrreichen Texten. Gleichzeitig geht es darum, für den Dialog zwischen den Religionen zu werben. Man kann gut mit anderen Religionen kommunizieren und sich austauschen, ohne die eigene religiöse Identität zu verlieren. Ich glaube, dass die Angst vor einem Identitätsverlust viele Menschen davon abhält, in ein Gespräch mit anderen zu treten.

Sie sind seit einigen Jahren in einer interreligiösen Frauengruppe: Was fasziniert Sie persönlich am interreligiösen Dialog in dieser Frauengruppe und welche Hoffnungen haben Sie im Blick auf den interreligiösen Dialog insgesamt?

Es ist unglaublich spannend, die einzelnen Geschichten der Frauen zu hören und darüber zu sprechen. Ich lerne dabei viel mehr persönliches über die einzelnen Religionen – was mir bei meiner Arbeit als Gymnasiallehrerin für Religionskunde und Ethik auch sehr hilft. Faszinierend ist es zu sehen, wie wir alle zwar einer Religion angehören, aber diese anders verstehen oder unsere Identität damit anders beeinflusst wird. Meine Hoffnung liegt vor allem darin, anderen Menschen Respekt und Toleranz zu vermitteln und ihnen die Angst zu nehmen, mit anderen Personen in Kontakt zu treten. Ich hoffe, mit meinem Engagement ein Vorbild für andere zu sein.

Ist es für Sie etwas Spezielles einen Gottesdienst in einer christlichen Kirche zu feiern?

Überhaupt nicht, im Gegenteil. Mein Vater ist selber christlich und wir haben zu Hause auch christliche Feiertage wie Weihnachten oder Ostern gefeiert. Ich war früher sogar im Kirchenchor und bin dabei regelmässig in den Sonntagsgottesdienst gegangen, um zu singen. Ich wurde dabei auch immer gut aufgenommen – auch wenn ich als nicht die Kommunion empfangen habe. Auch heute noch besuche ich sehr gerne Kirchen – ich finde, Kirchen haben etwas Beruhigendes und es gibt immer auch sehr viel interessantes zu entdecken. Und sie erinnern mich an meinen Grossvater mütterlicherseits, der vor allem die Kirchenmusik sehr geschätzt hat. (ft)

Tamar Krieger: «Jüdisch zu sein ist Teil meiner Identität» | © Claudia Conte
5. November 2016 | 08:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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 10 Jahre «Woche der Religionen»

Rund 150 Veranstaltungen laden schweizweit zu Begegnung und Dialog zwischen den in der Schweiz ansässigen Religionen und Kulturen ein. Vollständiges Programm und Informationen unter www.woche-der-religionen.ch Folgende Veranstaltungen finden während der Woche der Religionen in der Stadt Luzern statt:

Zwischenhalt Begegnung und Gottesdienst in freier Form aus der Tradition des Judentums mit der liberalen Jüdin Tamar Krieger (siehe Haupttext auf dieser Seite). Gestaltung: Tamar Krieger und Beata Pedrazzini; Gesang/Gitarre: Omer Nevo. Sonntag, 6. November, 10.00, Kirchensaal MaiHof

Abendtisch «Was isst Religion?» Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Weltreligionen bereiten Spezialitäten aus ihren religiösen Traditionen zu und stellen diese vor. Mittwoch, 9. November, 19.00, Kirchensaal MaiHof; Erwachsene 10 Franken; Kinder gratis; Anmeldungen bis 8. November, 17.00, an: Beata Pedrazzini 041 420 25 78; b.pedrazzini@z-m-l.ch

Werben um Frieden und Liebe Interreligiöse Friedensfeier zur Woche der Religionen. Gedanken, Texte und Musik aus verschiedenen Religionstraditionen zu Frieden und «Heimat finden». Mit Vertreterinnen und Vertretern von Buddhismus, Hinduismus, Bahá’i, Judentum, Islam, Alevitentum und Christentum. Donnerstag, 10. November 19.30, Kirchensaal MaiHof (ft)