Barbara Hallensleben ist Professorin in Freiburg i.Ü.
Kommentar

Die Rolle der russischen orthodoxen Kirche im Ukraine-Krieg: Warum Patriarch Kyrill schweigt

In Russland bekennen sich rund 75 Prozent der Menschen zum orthodoxen Christentum, in der Ukraine 60 Prozent. Bisher schweigt das Oberhaupt der russischen orthodoxen Kirche zum Konflikt. Ein Gastbeitrag von Barbara Hallensleben, der zuerst im «Sonntagsblick» erschienen ist.

Barbara Hallensleben*

Krieg und Frieden» – der monumentale Roman von Leo Tolstoi gehört zur Weltliteratur. Er schildert die Leiden unter dem Russlandfeldzug Napoleons. Krieg ist «das Allerscheusslichste im Leben», heisst es, besonders wenn er vom Sieger mit Dankgottesdiensten gefeiert wird. Der Grosse Vaterländische Krieg (1941–1945) gegen die nationalsozialistische Invasion ist im kollektiven Gedächtnis Russlands tief verwurzelt. Die Zahl der Opfer der damaligen Sowjetunion wird auf bis zu 40 Millionen geschätzt. In beiden Fällen leitete die erfolgreiche Abwehr der Aggression das Ende des gegnerischen Regimes ein.

Nun ist es Russland selbst, das einen abscheulichen Krieg über den unabhängigen Nachbarstaat der Ukraine bringt. Die Augen der Welt sind auf den Moskauer Patriarchen Kyrill gerichtet. Er ist das Oberhaupt einer Kirche, deren Gemeinden auf beiden Seiten der Front leben – und deren Gläubige nun als Soldaten genötigt sind, aufeinander zu schiessen. Warum schweigt der Patriarch? Es wird unerträglich, dass er den Krieg nicht mit ganzer Entschiedenheit verurteilt. Nicht nur die westliche Welt ist entsetzt, auch die orthodoxen Gläubigen der Moskauer Kirche in der Ukraine und überall in der Welt beginnen sich klar zu distanzieren. Die russische orthodoxe Kirche in der Ukraine hat ein eigenes Oberhaupt, Metropolit Onufrij. Zusammen mit seiner Synode hat er energisch Patriarch Kyrill aufgefordert, bei Präsident Putin das sofortige Ende des «brudermörderischen Blutvergiessens» zu erwirken. Die russische orthodoxe Kirche steht vor einer Zerreissprobe. Sie ist kurz davor, genau das zu verlieren, worum es dem Patriarchen geht: kirchliche Gemeinschaft mit dem Ursprung der Christianisierung Russlands im Jahr 988 durch die Taufe von Fürst Wladimir von Kiew.

Kirche ist in den Krieg verstrickt

Der Krieg ist ein Krieg Putins. Er hat aufgehört, als Politiker mit einer Verantwortung für sein Volk zu agieren, und stilisiert sich zu einer welthistorischen Gestalt, die es in perverser Form den alten Aggressoren Napoleon und Hitler gleichtut. Nein, der Krieg wurde nicht von der russischen orthodoxen Kirche initiiert. Sie ist jedoch auf unheilvolle Weise in ihn verstrickt. Nicht nur in Russland, sondern in der gesamten Orthodoxie wird das Verhältnis zwischen Kirche und Staat anders erfahren. Die orthodoxen Lokalkirchen sind überwiegend Nationalkirchen mit einer ausgeprägten Bindung an die jeweilige nationale Idee und Regierung. Anders als in der katholischen Kirche gibt es keine übergreifende Struktur der Verbundenheit. Das bringt viele Kirchen in eine Nähe zur jeweiligen Regierung und erzeugt an vielen Stellen politischen Konfliktstoff.

In der ersten Phase nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes waren die Kirchen von eminenter Bedeutung. Ihre unzähligen Märtyrer und Widerstandskämpfer gaben ihr moralische Glaubwürdigkeit. Der Glaube war als Alternative zum eingetretenen geistigen und spirituellen Vakuum attraktiv. Der Staat setzte für die harte Aufbauzeit auf den Rückhalt der Kirche – und stützte sie seinerseits. Doch die Zeiten haben sich gewandelt: Der Einfluss der russischen orthodoxen Kirche auf das öffentliche Leben ist inzwischen verschwindend gering. Nun wird sie von einem totalitären Machthaber für eigene Zwecke funktionalisiert. Wenn sie in dieser Inszenierung mitspielt und sich nicht rasch und eindeutig distanziert, wird sie mit dem Regime in den Abgrund gerissen werden.

Kirchliche Elemente dienen als Kriegspropaganda

Leider ist es wahr, dass es in Russland – auch statistisch gesehen – eine hohe Zustimmung für Putin gibt. Die Rhetorik sollte uns bekannt vorkommen. Sie lautet: «Make Russia great again!» Die Kränkung des grossen territorialen Verlustes nach dem Zerfall der Sowjetunion ist nicht überwunden. So werden neben den angeblichen Sicherheitsbedürfnissen Russlands angesichts der erweiterten Nato-Einflusszone auch kirchliche Elemente bedauerlicherweise zu Vorwänden in der Kriegspropaganda.

Die kirchliche Situation in der Ukraine bietet einen dieser Vorwände. Dort wurde 2019 auf Initiative von Staatschef Poroschenko durch den Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomäus, eine neue «Orthodoxe Kirche der Ukraine» mit ihrem Oberhaupt Metropolit Epiphanij gegründet. Da in diese Struktur Gruppierungen eingingen, die auch von anderen orthodoxen Kirchen nicht kirchlich anerkannt sind, führte die Initiative nicht zur Versöhnung einer nationalen unabhängigen Kirche, sondern zu neuen Gräben. Obwohl es damals leichter gewesen wäre, sich der neuen Kirche anzuschliessen, wählten fast alle Gemeinden der russischen orthodoxen Kirche die bleibende Verbundenheit mit Moskau. Diese kirchliche Destabilisierung der Ukraine erschwert jetzt die Versöhnung.

Kyrills Schweigen ist mit seiner Geschichte verknüpft

Die für Patriarch Kyrill vermutlich stärkste Blockade gegen die klare Verurteilung des mörderischen Krieges stammt aus der Grunderfahrung seines Lebens. Aufgewachsen in der Zeit der Christenverfolgungen des Sowjetregimes, hat er mehrere Familienmitglieder aufgrund ihrer Treue zum Glauben sterben sehen. Für ihn wiederholt sich die Verwüstung, die eine gottlose kommunistische Ideologie angerichtet hat, in einer «gottlosen» säkularen Welt, deren liberale Werteordnung ihm als Bedrohung für die menschliche Seele und ihr Heil erscheinen. Keiner dieser Vorwände darf im Geringsten zur Rechtfertigung eines Krieges verwendet werden, der abgrundtief jeglicher Humanität widerspricht. Hier beginnt ein anderes Kapitel über die Kirchen als prophetische und diakonische Stimme des Friedens und der Nähe Gottes zu den Menschen. Priester und Laien in der Ukraine stehen bis zur Erschöpfung den Opfern des Krieges bei. Rund um die Uhr stehen Kirchen offen und bieten nicht nur materielle Hilfe, sondern auch Trost und geistlichen Beistand, den Gläubige und Nichtgläubige suchen. Die Kirchen auch im angrenzenden Ausland engagieren sich unermüdlich für die Flüchtlingshilfe, oft rascher und unbürokratischer als die lokalen Behörden. Grenzen zwischen Konfessionen und Religionen verblassen angesichts einer Solidarität der Menschlichkeit.

Ja, die Kirchen sind inmitten der Wirren des Krieges auch ein leuchtendes Zeichen der Hoffnung auf eine Zeit nach dem Krieg. Russland ist nicht Putin, und die russische orthodoxe Kirche ist nicht Kyrill. In Kirche und Gesellschaft leben in Russland Menschen, die trotz der totalitären Kontrollmechanismen im Widerstand gegen Putin sind und die unsere Solidarität brauchen, um ein Russland nach dem Krieg, eine russische orthodoxe Kirche nach dem Krieg aufzubauen. Vielleicht haben wir ja auch nicht genug getan, um die russische orthodoxe Kirche «nach dem Fall des Kommunismus» von der Verlässlichkeit der westlichen Partner und der Glaubwürdigkeit ihres christlichen Lebensstils zu überzeugen? Haben wir genug getan, um der Ukraine ihre Brückenrolle zwischen den Kulturen von Ost und West zu ermöglichen?

* Barbara Hallensleben ist Direktorin des Zentrums für Studium der Ostkirchen an der Universität Freiburg. Der Beitrag erschien zuerst im «Sonntagsblick» vom 13. März.


Barbara Hallensleben ist Professorin in Freiburg i.Ü. | © Francesco Pistilli
13. März 2022 | 16:10
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