Mission und Kolonialismus – ein schwieriges Verhältnis: Papst Franziskus mit indigenem Kopfschmuck, einem Warbonnet.
Vatikan

Das Thema Kolonialismus wird die Kirche noch lange beschäftigen

Der Freiburger Kirchenhistoriker Mariano Delgado vermutet, dass die katholische Kirche die Entdeckungs-Doktrin umdeutet. Papst Franziskus kritisiert in Kanada den Kolonialismus – und warnt vor neuen Kolonialismen. Seine Worte lösen gemischte Reaktionen aus.

Roland Juchem

«Es stimmt, ja es ist Völkermord.» Auf diesen Satz des Papstes hatten nicht nur die rund 1,6 Millionen indigenen Menschen in Kanada gewartet: die First Nations, Metis und Inuit.

Der Papst spricht erst sehr spät von Genozid

Fast eine Woche lang, während das katholische Kirchenoberhaupt ihr Land besuchte und um Vergebung bat «für das Böse, das von so vielen Christen an den indigenen Bevölkerungen begangen wurde». Aber erst auf dem Rückflug nach Rom, befragt von einem indigenen Journalisten, nahm Franziskus das Wort «Genozid» in den Mund. Warum?

Menschen tragen ein rotes Banner durch die Menge mit Namen von Opfern der Internate in Kanada.
Menschen tragen ein rotes Banner durch die Menge mit Namen von Opfern der Internate in Kanada.

Es sei ihm nicht in den Sinn gekommen, gab der Papst als Grund an. Die Aussage muss verwundern. Papstreden, zumal solche zu anspruchsvollen und heiklen Themen, werden in mehrstufigen Prozessen von Fachleuten vorbereitet. Ebenso die Übersetzungen. Daran sind in der Regel auch die Kirche und staatliche Stellen des besuchten Landes beteiligt. 

Benedikt XVI. Worte in Aparecida sorgten für Empörung

Nachdem Kanadas staatliche Aufklärungskommission die harte Assimilierungspolitik in den kirchlich betriebenen Internaten bereits 2007 als «Völkermord» bezeichnet hatte, war klar: Diese Aussage erwartet man auch vom Papst. Er habe im Grunde «den Völkermord beschrieben und um Verzeihung und Vergebung gebeten», fügte Franziskus auf dem Rückflug hinzu.

Papst Franziskus mit Vertretern der indigenen Gruppen der First Nations, Metis und Inuit.
Papst Franziskus mit Vertretern der indigenen Gruppen der First Nations, Metis und Inuit.

In der Tat war er weit über das hinausgegangen, was seine Vorgänger über Kirche und Kolonialismus gesagt hatten. So hatte 2007 Benedikt XVI. im brasilianischen Aparecida gesagt, die Indigenen hätten vor 500 Jahren unbewusst auf die Evangelisierung gewartet. Womit er heftigen Protest erntete. 

Kanada-Reise nur ein «erster Schritt»

Johannes Paul II. sprach bei seiner ersten Lateinamerika-Reise 1979 noch davon, bei der Missionierung des Kontinents «wurde unter Schwierigkeiten und Opfern Schönes erreicht, wenn auch nicht frei von Schatten». In seinen Botschaften an Indigene und Afroamerikaner 1992 sowie in den Vergebungsbitten des Heiligen Jahres 2000 bat er dann um Vergebung für die Verquickung von Mission und Kolonialismus.

Papst Franziskus begrüsst einen indigenen Vertreter in Kanada, im Jahr 2021.
Papst Franziskus begrüsst einen indigenen Vertreter in Kanada, im Jahr 2021.

Die jüngste Papstreise sei nur ein «erster Schritt», hiess es in Kanada. Genauer war es ein dritter Schritt der katholischen Kirche. Im vergangenen Jahr hatten Kanadas katholische Bischöfe um Vergebung gebeten und mit ersten Entschädigungszahlungen begonnen. Dann empfing Franziskus Ende März Delegationen indigener Völker in Rom, um sich von ihnen schildern lassen, was sie und ihre Angehörigen in den Residential Schools erlebt hatten.

Finanzielle Entschädigungen, Rückgabe indigener Kultgegenstände

Sie waren ihren Familien entrissen, ihrer Kultur beraubt, der europäischen angepasst sowie misshandelt und missbraucht worden. Am Ende bat er auch dort um Vergebung für «das beklagenswerte Verhalten» von «Mitgliedern der katholischen Kirche». Weitere konkretere Schritte müssen folgen. Darin waren und sind sich alle einig. Wie diese aussehen sollten, wird unterschiedlich akzentuiert.

Papst Franziskus betet auf einem Friedhof in Kanada.
Papst Franziskus betet auf einem Friedhof in Kanada.

Finanzielle Entschädigungen? Rückgabe indigener Kunst- und Kultgegenstände aus kirchlichen Museen, auch den Vatikanischen? Die ebenfalls geforderte Öffnung der Archive von Diözesen, Vatikanbehörden und Ordensgemeinschaften in Kanada und in Rom wird dauern. Zu gering ist die Personalausstattung, zu weit verstreut sind Dokumente über die katholische Kirche in Kanada.

Umstrittene Entdeckungs-Doktrin

Weiter aufgearbeitet werden muss die Rolle von Päpsten und Kurie bei der Entdeckung, Eroberung und Versklavung während der europäischen Expansion. Im 15. Jahrhundert hatten insbesondere zwei Päpste, Nikolaus V. (1447–1455) und Alexander VI. (1492–1503), Eroberung und Entrechtung nicht-christlicher Völker gutgeheissen, Portugals und Spaniens Könige dazu eigens ermächtigt. Andere, auch protestantische Kolonialmächte, übernahmen dieses Denken bereitwillig.

Indigene Frauen protestieren während der Papst-Messe in Kanada.
Indigene Frauen protestieren während der Papst-Messe in Kanada.

Diese Lehre, seit kurzem unter dem englischen Begriff «doctrine of discovery» (Entdeckungs-Doktrin) verhandelt, floss in Gesetze sowie Gerichtsurteile in USA und Kanada ein. Er müsse diese Doktrin seiner Vorgänger zurücknehmen, forderten indigene Vertreter von Franziskus. Noch während der Reise hiess es, Kanadas Bischöfe, der Vatikan und andere Experten arbeiteten einer Erklärung.

Delgado rechnet mit einer Umdeutung

Die werde eher keinen direkten Widerruf früherer Papst-Dokumente enthalten, sondern eine Umdeutung, vermutet der Kirchenhistoriker Mariano Delgado. Zudem könnte man darauf verweisen, dass schon damalsTheologen auch anders argumentierten, ja selbst Päpste sich teils anders äusserten.

Mariano Delgado
Mariano Delgado

Aus heutiger Sicht irrige und falsche Aussagen aus Geschichte und Tradition schlicht auszuradieren, ist aus Sicht von Historikerinnen und Historikern, nicht nur kirchlichen, unangemessen. Eine solche «cancel culture» kritisierte Franziskus auch in Kanada. Und warnte vor neuen Kolonialismen.

Heisse Eisen: Ehe, Familie, Sexualität und Lebensrecht

«Ideologischen Kolonialismus» nennt er es, wenn westliche Staaten und Organisationen ihre individualistisch-liberale Sicht zu Ehe, Familie, Sexualität und Lebensrecht oder ihre kapitalistisch-konsumistische Sicht in Wirtschaftsfragen anderen Staaten und Kulturen aufdrängen.

LGBTQ-Zelt beim Bundeslager der Schweizer Pfadi.
LGBTQ-Zelt beim Bundeslager der Schweizer Pfadi.

Seine Bitten um Vergebung konnte der Papst kollektiv formulieren. Vergebung gewähren können nur Einzelne; auch das war unumstritten während der Reise. Manche können das, andere nicht. So schleuderte am Ende der Feier in Maskwacis eine Vertreterin der örtlichen First Nations dem Papst ihren Schmerz und weitere Erwartungen zornig entgegen. 

Papst: Versöhnung findet vor Ort statt

Gleichzeitig sagte ein alter Inuit im kanadischen Fernsehen, er könne der Vergebungsbitte des Papstes entsprechen. Nun finde er Frieden – und könne seiner Familie ein besserer Ehemann, Vater und Grossvater sein. Was kirchliche Mitarbeiter in den Internaten anrichteten, traumatisierte eben nicht nur dieSchüler, sondern ganze Generationen.

Papst Franziskus grüsst aus dem Papamobil die Gläubigen im Stadion von Edmonton.
Papst Franziskus grüsst aus dem Papamobil die Gläubigen im Stadion von Edmonton.

Wie Franziskus sich Neuanfang und Versöhnung vorstellt, sagte er vor Mitgliedern einer Pfarrei in Edmonton, zu der indigene Kanadierinnen und Kanadier sowie Nachkommen europäischer Einwanderer gehören. «Gesten und Besuche mögen wichtig sein, aber die meisten Worte und Aktivitäten der Versöhnung finden vor Ort statt, in Gemeinschaften wie dieser, wo Menschen und Familien Tag für Tag Seite an Seite leben.» (cic)


Mission und Kolonialismus – ein schwieriges Verhältnis: Papst Franziskus mit indigenem Kopfschmuck, einem Warbonnet. | © KNA
1. August 2022 | 17:50
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