Statue von Niklaus von Flüe in seinem Geburtshaus.
Schweiz

Bruder Klaus als Aussteiger: Einigeln oder auswandern – das ist die Frage!

Zürich, 21.6.17 (kath.ch) Als Aussteiger hätte Bruder Klaus statt in den Ranft in die weite Welt ziehen können, findet der Schweizer Jungautor Adam Schwarz. War Bruder Klaus aber ein Aussteiger im herkömmlichen Sinn? Zwei Forscher der Hochschule St. Gallen (HSG) und Schwarz geben Antwort.

Georges Scherrer

Niklaus von Flüe verliess fünfzig Jahre alt die Familie und zog somit noch im Erwerbsalter als Eremit in den Ranft, stellt Björn Müller, Lehrbeauftragter für Handlungskompetenz an der HSG, gegenüber kath.ch fest. War er also ein Aussteiger im modernen Sinn des Wortes? Das Phänomen «Berufsaussteiger» wird heute auch als «Downshifting» bezeichnet. Gemäss Björn Müller wollen solche Menschen «einen Gang herunterschalten». Müller bemerkt zu dieser Erscheinung: «Wir leben in einer ‘flüssigen’ oder beschleunigten Moderne, die sich als Multioptionsgesellschaft präsentiert.» Der Mensch wolle «alles» erleben und unter einen Hut bringen.

«Ob Bruder Klaus gestresst war, wage ich zu bezweifeln.»

Ebenso erfahre heute der Mensch beruflich eine Entgrenzung der Arbeit und eine Vermarktung sämtlicher Lebensbereiche. Dies äussere sich individuell meist durch Stress und das Gefühl, nicht mehr hinterherzukommen. Man fühle sich wie in einem Hamsterrad gefangen, so Björn Müller. Gleichzeitig steige die Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Leben.

Entschleunigung und Sinnsuche

«Downshifting» bringe also meist zwei Motive zusammen: das Bedürfnis nach Entschleunigung und jenes nach mehr Bedeutung und Sinn im Leben. «Downshifting» könne dann ganz unterschiedliche Formen annehmen: von «einfach etwas weniger machen» bis «anderen Dingen im Leben mehr Priorität geben».

«Downshifting» ist heutzutage oft eine ich-zentrierte Sinnsuche.

«Ob Bruder Klaus gestresst war, wage ich zu bezweifeln», meint Müller. Dessen Schritt sei zwar klar aus einer Lebens- und Sinnkrise erwachsen. Das Leben als erfolgreicher Bauer, Ehemann, Vater, Richter und Politiker habe ihn nicht mehr befriedigt. Er suchte nach etwas anderem. In diesem Sinne sei Bruder Klaus aus seinem bisherigen Leben ausgestiegen. «Allerdings sehe ich Bruder Klaus nicht als klassischen Aussteiger», ergänzt Müller. Denn der Eremit sei in seinem «neuen» Leben weiterhin hoch geschätzter Teil der Gesellschaft geblieben, unterstreicht Müller.

Bruder Klaus wollte weiterhin dienen

Sehr weit gefasst, insbesondere wenn «Downshifting» durch Sinnsuche motiviert sei, könnte man Bruder Klaus auch als «Downshifter» betiteln. Allerdings sei «Downshifting» heutzutage meist Teil eines neo-liberalen Diskurses und einer oft ich-zentrierten Sinnsuche: «Ich mache das für mich».

Das Eremitenleben war damals möglicherweise stärker gesellschaftlich als Option akzeptiert.

Darum schliesst der HSG-Lehrbeauftragte: «In diesem Sinne war Bruder Klaus aus meiner Sicht kein Downshifter, suchte er sich doch in den Dienst einer Sache beziehungsweise des Glaubens zu stellen.»

Gesellschaftlich anerkannt

Am Lehrstuhl für Organisationspsychologie an der HSG ist Julia Nentwich Titularprofessorin für Psychologie. Sie sagt: «Wenn Aussteigen aus dem bisherigen Leben ein Kennzeichen von Downshifting ist, dann ist Bruder Klaus ein solcher.» Sein Entscheid sei aber «zugleich radikaler wie auch einfacher, als es heute ist». Radikaler in dem Sinn, als die Konsequenzen für seine Familie zu dieser Zeit wohl «ungleich schwerer gewesen sein müssen, als sie heute seien». Einfacher dagegen, weil das Eremitenleben damals möglicherweise stärker gesellschaftlich als Option akzeptiert wurde, so Nentwich gegenüber kath.ch

Der Schweizer Jungschriftsteller Adam Schwarz hat sich ausführlich mit der Gestalt von Bruder Klaus beschäftigt. In seinem Erstlingswerk «Das Fleisch der Welt» igelt der 27-jährige gebürtige Bülacher seinen Bruder Klaus nicht im Ranft ein. Er schickt ihn vielmehr in die weite Welt hinaus. Wohin die Reise führt, verrät der Roman, der im Herbst im Basler Zytglogge Verlag erscheint.

Aussteiger gestern und heute

Der Begriff «Aussteiger» könne nicht einfach auf die Zeit des Spätmittelalters übertragen werden, warnt Schwarz, der heute in Basel lebt. Klammere man jedoch diese zeitbedingte Komponente aus, so gebe es mehrere Argumente dafür, Niklaus von Flüe doch unter diesen Begriff zu fassen. So verzichtete er auf seine relativ hohe gesellschaftliche Stellung. Dies sei in seinem Umfeld nicht nur auf Verständnis gestossen. Zudem führte er ein «radikal reduziertes Leben».

«Niklaus von Flüe lebte also doch eher ein Vita activa als ein Vita contemplativa.»

Die kirchlichen Behörden reagierten damals kritisch auf den Ausstieg, sagt Schwarz. Diese prüften, ob er nicht gegen das göttliche Gesetz verstiess. Manche vertraten sogar die Ansicht, dass er, indem er seine Frau verliess, ein Ehebrecher sei. Heutige Aussteiger sähen sich möglicherweise mit dem weltlichen Gesetz konfrontiert. Adam Schwarz weist auf die Aussteiger vom Berner Bremgartnerwald  hin. Diese Gruppe will nichts von der modernen Gesellschaft wissen und hat sich darum in einem Waldstück bei Bern ausgesondert.

Gesellschaftliche Bindung blieb erhalten

Für ein wirklich weltabgewandtes Aussteigen, bei dem man gänzlich unabhängig leben könne, biete die kleine Schweiz wenig Raum, bemerkt der Wahlbasler und ergänzt: «Auch Bruder Klaus war nicht wirklich draussen.» Seine Klause befand sich in unmittelbarer Nähe der Zivilisation und auch seiner Familie. Er erhielt häufig Besuch oder erteilte Ratschläge. Letztere beeinflussten, wie im Fall des Stanser Verkommnisses, die Gesellschaft ganz direkt, «Niklaus von Flüe lebte also doch eher eine Vita activa als eine Vita contemplativa», so Adam Schwarz gegenüber kath.ch.

«Seine Unabhängigkeit war sehr begrenzt.»

Seiner Ansicht nach konnte Bruder Klaus nur deswegen in der Ranft ziehen, weil ihm die Gesellschaft und die Behörden dies gestatteten. «Seine Unabhängigkeit war also sehr begrenzt.» Sein Status als «lebender Heiliger» wohnte ihm nicht inne, sondern wurde ihm von der Gesellschaft verliehen. Niklaus von Flüe war darum gemäss Schwarz kein Aussteiger, sondern tauschte nur gesellschaftliches Ansehen gegen eine andere Form gesellschaftlichen Ansehens. Er habe sich bemüht, sich aus der Gesellschaft auszuklammern und dadurch erst recht Einfluss nehmen können. So gesehen war er kein Aussteiger.

https://www.kath.ch/bruder-klaus-jubilaeum/

Statue von Niklaus von Flüe in seinem Geburtshaus. | © KNA
21. Juni 2017 | 13:04
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