Schwester Ariane hat die Hilfe im Rotlichtmilieu verstärkt.
Schweiz

An der Langstrasse mit Schwester Ariane

Schwester Ariane hilft Bedürftigen, Prostituierten, Obdachlosen und Junkies. Sie und Freiwillige des Vereins Incontro verteilen in Zürich Esswaren und Mahlzeiten. In Corona-Zeiten mehr denn je.

Vera Rüttimann

Die Langstrasse ist Zürichs pulsierende Szenemeile. Normalerweise. An diesem Samstag wirkt sie ungewohnt leblos. Viele Clubs und Bars sind zu. Die Frau, die mit ihrem langen weissen Habit, einem blauen Skapulier (Ordensumhang) und Schutzmaske die Langstrasse entlang eilt, kennt diese Stimmung gut. Seit der Corona-Krise hat Schwester Ariane und der von ihr gegründete Verein Incontro die Einsätze intensiviert.

Jeden Abend verteilt sie entlang der Langstrasse aktuell 250 warme Mahlzeiten. Und jeden Samstag – wie auch an diesem – reicht sie den Wartenden auch Lebensmittelpakete und Hygieneartikel. Mit in ihrem Team sind über 80 junge Freiwillige. Sie sind dem christlichen Verein Sant’Egidio verbunden, in der Kirche tätig wie Karl Wolf, der katholische Pfarradministrator im zürcherischen Küsnacht, oder sozial engagiert.

«Ich sah Frauen aus dem Milieu weinen.»

Schwester Ariane

Während Schwester Ariane an den geschlossenen Bars entlang läuft, erzählt sie, warum sie vor acht Wochen die Gassenarbeit zu intensivieren begann. «Ich sah Frauen aus dem Milieu, die weinend auf dem Bordstein standen, weil sie ihr Zimmer verloren haben.» Sie habe handeln müssen.

Mit dem Lockdown ging auch das Berufsverbot für Sexarbeitende einher. Hunderte Frauen und Männer stehen seither ohne Einnahmen da. Die Corona-Krise traf all jene besonders hart, die schon vorher am Existenzminimum lebten.

Anstehen für Lebensmittel: Armutsbetroffene in Zürich
Anstehen für Lebensmittel: Armutsbetroffene in Zürich

Lange Warteschlange

Als die über zwanzig Helfenden mit Schutzmasken und in blauen Pullovern ihren Leiterwagen unweit des Restaurant Hiltl mitten in der Langstrasse Halt machen, stehen Frauen und Männer schon in einer langen Schlange bis zum Helvetiaplatz. Die Frauen oft leicht bekleidet und in langen Leggins, die Männer in Trainerhosen.

Dann geht es los. Die Helfer verteilen Lebensmittelsäcke mit Grundnahrungsmitteln für eine Woche. Zudem Duschgels, Zahnpasta und Zahnbürsten. Ebenso Desinfektionsmittel und Vitamine. Manche haben ein Leuchten in den Augen, wenn sie den Platz verlassen.

Die Lebensmittelpakete werden aktuell in 17 katholischen Pfarreien und 10 reformierten Kirchgemeinden in Stadt und Kanton Zürich gesammelt. Schwester Ariane hatte sie zu Beginn der Corona-Krise um Hilfe angefragt. «Wir begannen mit 70 Paketen, heute sind es fast 800.» Auch der exklusive Lionsclub – ein berufliches Netzwerk – spendet jede Woche 200 Säcke.

Theologin mit besonderer Berufung

Die meisten Frauen und Männer, denen sie eine Tüte reicht, kennt Schwester Ariane persönlich. Diese Arbeit ist für sie eine Berufung. Die Theologin, die in Luzern ihr Studium abgeschlossen hat, handelt nach der Frage: Was hätte Jesus gemacht? «Er suchte die Menschen auf und ging ihnen nach bis an die äussersten Ränder.» Das Wort «Incontro» (Begegnung) auf ihrem blauen Pullover erhält einen neuen Sinn.

Schwester Ariane (2. v. l.) bei der Verteilung der Essenstüten.
Schwester Ariane (2. v. l.) bei der Verteilung der Essenstüten.

Die Gasse ist jetzt ihre Kirche. Schwester Ariane verteilt nicht nur Lebensmitteltüten, sie hört an diesem Nachmittag oft auch zu. «Das Dasein, das Aufbauen von Freundschaft ist zentral. Die Not, die Einsamkeit bei unseren Freunden auf der Gasse ist gross.»

Es ist 20.30 Uhr, als sich der Platz an der Langstrasse langsam leert. Die Helferinnen und Helfer ziehen mit ihren Leiterwagen davon. Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf schauen noch kurz bei ein paar Frauen und Männern, die sonst im Milieu arbeiten, persönlich vorbei.

Gefährliche Sekunde

Es dunkelt ein. Ihre Arbeit, das weiss Schwester Ariane, ist nicht ungefährlich. Einmal sei sie von einem ihrer drogensüchtigen Freunde im Rausch angegriffen worden. Als sie seine Faust auf der Nasenwurzel spürte, habe sie einen Moment Angst gehabt. Sie sagt: «Ich habe jedoch keine Sekunde am Weitermachen gezweifelt.»

In der nächsten Reportage erfahren Sie, wer Schwester Ariane begleitet und aus welchen Beweggründen.

Schwester Ariane hat die Hilfe im Rotlichtmilieu verstärkt. | © Vera Rüttimann
14. Mai 2020 | 16:11
Lesezeit: ca. 2 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!

weitere Artikel der Serie «Coronavirus»

Der Verein Incontro

Der Verein Incontro ist in der katholischen Kirche beheimatet und ökumenisch ausgerichtet. An der aktuellen Lebensmittelaktion beteiligen sich Zürcher Pfarreien und Kirchgemeinden. Er wurde 2001 von Schwester Ariane Stocklin gegründet. Die Theologin gehört dem Stand der «geweihten Jungfrauen» an, ist eingekleidet und tritt als Schwester Ariane auf. Sie lebe als Schwester in der Welt, sagt sie. Incontro setzt sich für in Not geratene Menschen ein. Ihnen soll in Form von Gesprächen, Begleitung und Unterstützung geholfen werden. Monatlich jeweils an einem Freitagabend findet in der Pfarrei Bruder Klaus, Zürich, der Open-Hearts-Gottesdienst statt. Jeden Samstagnachmittag verteilt der Verein incontro auf der Zürcher Langstrasse Lebensmittelpakete und jeden Abend warme Mahlzeiten. (vr)