Martin Werlen
Schweiz

Auf der Suche nach Klarblick in schwierigen Zeiten

Einsiedeln, 3.9.18 (kath.ch) Die römisch-katholische Kirche befindet sich vor einer grossen Herausforderung. Sie steht wegen Machtmissbrauch, sexuellen Übergriffen und Vertuschung am Pranger. Hat da noch jemand den Klarblick? Das fragt alt Abt Martin Werlen vom Kloster Einsiedeln in seinem Gastkommentar.

Sehr oft sind komplexe Situationen plakativ dargestellt. Viele der derzeitigen Stellungnahmen können zusammengefasst werden mit: für Papst Franziskus – gegen Papst Franziskus. Aber das erlaubt keinen Klarblick.

Über Jahrhunderte war die Kirche eine grosse Macht – trotz der klaren Weisung des Evangeliums: «Bei euch aber soll es nicht so sein» (Markusevangelium, Kapitel 10,43). Der Skandal des Machtmissbrauchs, der Skandal der sexuellen Übergriffe und der Skandal der Vertuschung sind wesentlich Folgen dieser Machtposition mit ihren Privilegien.

Die Versuchung des Pharisäismus

Eine im Evangelium immer wieder angesprochene Gruppe wurde in der kirchlichen Wahrnehmung weitgehend ausgeblendet – und damit die an diese Gruppe gerichteten Worte: Die Pharisäer und die Schriftgelehrten. Die Versuchung des Pharisäismus lauert an der Tür der Frommen, besonders derjenigen, die Macht haben oder die Macht erhalten wollen. In der Kirche wurde diese weit verbreitete fatale Haltung immer wieder mit einem frommen Mäntelchen bekleidet. Verurteilt wurde selten die Haltung der Gesetzeshüter (wie das Jesus getan hat), die den Menschen in seiner Not übersehen. Verurteilt wurden oft die einfachen Menschen, die dadurch nicht selten in Nöte und Ängste getrieben wurden. Wie anders tönt das Wort Jesu: «Amen, ich sage euch: Die Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr» (Matthäusevangelium, Kapitel 21,31).

Macht der Kirche ist vorbei

Die Zeit der Macht der Kirche ist vorbei. Gott sei Dank! Papst Franziskus versucht die Kirche ins Heute zu führen. Der Reformstau ist enorm. Trotz allem Druck: Es braucht hier nicht einfach Machtworte von oben, wie das viele erwarten. Es braucht ein entschlossenes Miteinander-auf-dem-Weg-sein. Auch das gefällt nicht allen.

Leute, die sich der Aufarbeitung der Vergangenheit entgegengestellt haben, nutzen nun das Problem, um den Papst loszuwerden.

Die bereits gemachten Schritte und die angestrebten Reformen stossen bei traditionalistischen Kreisen auf grossen Widerstand. Für sie ist klar: Papst Franziskus muss weg. Und alle Kardinäle und Bischöfe, die ihn in seinen Reformbemühungen unterstützen. So überrascht es nicht, dass jetzt gerade die Kreise den Missbrauch-Skandal instrumentalisieren, die dem Machtverlust nachtrauern und die Vertuschungsmentalität in der Vergangenheit besonders pflegten. Leute, die sich der Aufarbeitung der Vergangenheit entgegengestellt haben, nutzen nun das grosse Problem, um den Papst loszuwerden, der nicht stehen bleiben will.

Ich merke in mir die Versuchung, gegenüber den Bremsenden eine pharisäische Haltung einzunehmen. Gerade das soll nicht passieren. Ansonsten landen wir wieder bei Machtspielen. «Bei euch aber soll es nicht so sein.» Ohne Verachtung miteinander unterwegs sein, als Schwestern und Brüder.

Kenne Vertuschungsmentalität aus Erfahrung

Die Vertuschungsmentalität ist nicht so einfach zu durchbrechen, wie das in der Öffentlichkeit oft dargestellt ist. Ich kenne diese Mentalität aus eigener Erfahrung. Vor allem im Kontakt mit Opfern habe ich vieles gelernt und bin ich auf einen Weg mitgenommen worden. Und da bin ich immer noch ein Lernender. Manchmal habe ich sogar den Eindruck: ein Anfänger. Das hilft mir, auch andere nicht einfach zu verurteilen, sondern ihnen zu helfen, diese Dynamiken zu durchschauen und aufrichtig anzugehen. Allerdings: Das ist manchmal fast zum Verzweifeln. In dieser Frage fühle ich mich immer wieder überfordert. Nebenbei gesagt: Die meisten Menschen, die sich mir heute in dieser Not anvertrauen, kommen nicht mehr aus der katholischen Kirche, sondern aus anderen Glaubensgemeinschaften oder Unternehmungen.

Aber zurück zur Situation in der römisch-katholischen Kirche. Ist Papst Franziskus der richtige Mann, die Kirche in dieser Situation zu führen? Das ist eine berechtigte Frage. Für Papst Franziskus – gegen Papst Franziskus: Diese Stellungnahmen reichen nicht. Papst Franziskus kennt die Vertuschungsmentalität aus eigener Erfahrung. Er kommt zudem aus einem Land, in dem die Tabuisierung sexueller Übergriffe noch grösser ist als bei uns. Diese Prägung kann leicht nachgewiesen und ihm vorgeworfen werden. Dabei möchte ich nicht stehen bleiben.

Papst Franziskus als Lernender

Ich nehme Papst Franziskus als Lernenden wahr – gerade auch in der Tragik der sexuellen Übergriffe. In der Begegnung mit Opfern geht ihm vieles auf. Er bittet in aller Öffentlichkeit um Vergebung für sein Fehlverhalten und zieht Konsequenzen. Ich traue ihm zu, dass er die Kirche gerade jetzt führen kann, weil er das nicht von oben herab tut, sondern als einer von uns. Er selbst als ein Lernender. Er will uns alle mitnehmen. Das kommt in seinem Brief an das Volk Gottes vom 20. August 2018 (Original) in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Wir alle müssen uns den Problemen stellen – mit der Hilfe von Fachleuten.

Ich bin Papst Franziskus dankbar für sein Wirken und fühle mich zusammen mit ihm als Lernender auf dem Weg. Er macht es in aller Deutlichkeit klar, dass nicht Rom das Zentrum unseres Glaubens ist, auch nicht der Papst. Das Zentrum unseres Glaubens ist der Gott, der da ist – selbst in grössten Schwierigkeiten.

Hinweis: «Der Club» von Schweizer Fernsehen SRF zum Thema: «Schweigen in der Soutane: Was tut die Kirche gegen Missbrauch?» mit Martin Werlen, Bischof Felix Gmür, Gemeindeleiterin Monika Schmid und anderen. Am 4. September, 22.20h, SRF 1

Martin Werlen | © Barbara Fleischmann
3. September 2018 | 10:40
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