Pierre Stutz im Kino
Schweiz

Pierre Stutz: «Atheistische Regisseure sind oft näher beim Religiösen»

Zürich, 3.9.15 (kath.ch) Filmszenen als Eingangstor zur Religion, davon handelt das neuste Buch von ­Pierre Stutz. Im Interview mit kath.ch erzählt der Autor und Theologe von mystischen Erlebnissen im Kino und von Regisseuren, die religiöse Momente festhalten, ohne das so zu benennen.

Sylvia Stam

Pierre Stutz, welches ist Ihr eigener Lieblingsfilm?

Pierre Stutz: Mein Buch beginnt mit dem Film «Boyhood». Der Film ist über zwölf Jahre entstanden, er dauert fast drei Stunden. Mich fasziniert das Unscheinbare, Alltägliche, wie er das einfängt!

Was ist daran spirituell?

Stutz: Einerseits die Haltung, mit der der Regisseur zwei Kinder begleitet. Dann sind diese Kinder Menschen, die immer mehr zu sich selber finden. Das sind für mich zentrale spirituelle Themen, obschon diese in all den 50 Filmen nicht explizit als solche benannt werden.

Es gibt eine Szene, wo der Junge gefragt wird: «Was ist deines? Was kannst du, was sonst niemand kann?» Das sind für mich Highlights. Das ist identisch mit dem, was ich an all meinen Vorträgen sage: Jeder Mensch auf dieser Welt hat eine ureigene Aufgabe. Das bedeutet für mich, Abbild Gottes zu sein, nämlich dass ich meine ureigenste Aufgabe entdecke, die nur ich erfüllen kann.

Geht es da nicht einfach um Selbstverwirklichung?

Stutz: Für mich ist Selbstverwirklichung etwas Zentrales. Die Mystik beginnt immer mit «Werde dich selbst». Dabei geht es nicht darum, im Egoismus stecken zu bleiben, sondern darum, in der Selbstverwirklichung die Menschwerdung Gottes erfahren, den Atem Gottes, der sich durch dich verwirklichen möchte. Das ist auch sehr jesuanisch: Wenn du deine Talente vergräbst, weil du Angst hast, etwas falsch zu machen, dann verpasst du das Leben und die Liebe Gottes.

Richtet sich Ihr Buch eher an Filmliebhaber oder an spirituell Suchende?

Stutz: An beide! Ich gehe davon aus, dass die Leser den Film nicht gesehen haben. Ich erzähle nur kleine Szenen, nicht den ganzen Film. Und dann sage ich: «Das hat in meiner Optik etwas mit Spiritualität zu tun.» Wer den Film gesehen hat, für den eröffnet das Buch nochmals einen neuen Zugang, wie ich hoffe.

Ihr Buch handelt von der Verbindung zwischen Kino und einem spirituellen Weg. Wie sieht diese Verbindung aus?

Stutz: Spiritualität ist für mich die Einladung, mein Leben achtsam zu gestalten und im Auf und Ab meines Lebens eine göttliche Spur zu entdecken. Ich ziehe hier 50 Filmszenen bei, von denen ich finde, die drücken das in Bild und Ton aus, bringen das auf den Punkt, was für mich ein spiritueller Weg ist.

Ein Beispiel bitte?

Stutz: Im Film «Rot» von Kieślowski begegnet ein verbitterter Richter einer jungen Frau. Als sie sagt, es gehe ihr schlecht, weil ihr Bruder drogensüchtig sei und sie nichts machen könne, entgegnet er: «Sie können unglaublich viel machen: Dasein». Da sagt sie: «Das bringt doch nichts!». Er wiederholt: «Sie können ihn nicht retten, aber Sie können ganz viel tun, indem Sie einfach sind.»

Das ist für mich genau das Einstiegstor der Mystik: Was kann ich als Einzelner schon tun, zum Beispiel anlässlich der Eurokrise? Dann kommt die Mystik und sagt: Geh in dich, in dir ist eine Kraftquelle, die ermöglicht dir, anders mit scheinbar unlösbaren Problemen umzugehen.

Ist das nicht Weltflucht?

Stutz: Nein! Das Schlimmste ist, wenn man in der Resignation stecken bleibt. Wenn ich Zeitung lese, komme ich in so eine Resignation. Ich versuche, mich dann nicht von negativen Meldungen auffressen zu lassen, indem ich mein regelmässiges Meditieren als einen politischen Akt verstehe. Oder wie die Jüdin Elly Hillesum sagt: «Das ist eigentlich unsere eigene moralische Aufgabe, in sich selbst grosse Flächen für die Ruhe urbar zu machen. Je mehr Ruhe in mir ist, umso ruhiger wird es in dieser Welt.» Das ist die politische Kraft der Stille.

Sieht der Regisseur des Films das selber auch so?

Stutz: Kieślowski sagt, er sei nicht religiös. Ich kann letztlich nur von mir reden: Ich empfinde es so, aber ich will niemanden vereinnahmen.

Dann sind die von Ihnen genannten Filme also subversiv religiös?

Stutz: Ja. Ich finde es extrem spannend, dass Regisseure, die sich Atheisten nennen, mit einer grossen Distanz, aber nicht mit einer verkrampften Ehrfurcht an ein Thema herangehen und dadurch oft viel näher beim Religiösen sind. Darum glaube ich auch, dass Film ein tolles Medium ist, um einen Einstieg über religiöse Fragen zu ermöglichen.

Wie reagieren Regisseure auf Ihre spirituelle Sichtweise auf ihre Filme?

Stutz: Ich würde mich freuen, wenn da ein Diskurs entstehen würde. Ich habe mich mit Lionel Baier, einem Lausanner Regisseur, getroffen. Als ich im Zusammenhang mit seinen Filmen das Wort «mystisch» benutzte, verdrehte er die Augen: Damit habe er nichts zu tun. Und dann erzählte er mir: «Auf dem Filmset braucht es höchste Präsenz, da sind hundert Leute auf dem Plateau, ich mit Megafon, aber am Schluss muss ich mich gleichsam auflösen, sodass ich nicht mehr da bin, damit der Film den ganzen Raum hat.» Für mich ist das Mystik pur: Voll da und ganz weg sein!

Ist das Kino somit Erbe der Kirche?

Stutz: Das würde ich nicht nur vom Kino sagen, sondern von Kunst überhaupt. Künstler haben oft ein Sensorium dafür, dass durch sie etwas hindurch geht. Es ist hart, das auszuhalten. Es kann heissen, nicht verstanden zu werden, einsam zu sein, und doch die Haltung zu haben: Ich muss es so sagen! Das hat für mich etwas Prophetisches. Mit den Worten von Madeleine Delbrêl: «Kunst ist ein Eingangstor zur Religion.» (sys)

Hinweis: Pierre Stutz, Geh hinein in deine Kraft. 50 Film-Momente fürs Leben, Verlag Herder 2015, 208 Seiten, ISBN 978-3-451-34219-6.

Hinweis für Redaktionen: Fotos von Pierre Stutz können beim Autor selber bestellt werden unter pierrestutz@bluewin.ch.

Trailer zum Buch:

 

Pierre Stutz im Kino | © 2015 Basil Schweri
3. September 2015 | 06:55
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 Pierre Stutz: Geh hinein in deine Kraft | © 2015 Herder-Verlag

Pierre Stutz

Pierre Stutz ist katholischer Theologe und Autor. Als Priester war er Mit-Initiant des «Offenen Klosters» von Fontaine-André in Neuenburg, einer Gemeinschaft, in der Frauen und Männer, auch verheiratete, lebten. 2002 legte Stutz sein Priesteramt nieder, weil er seine Homosexualität leben wollte. Pierre Stutz verkaufte als Autor spiritueller Literatur bisher über eine Million Bücher.

Pierre Stutz: Geh hinein in deine Kraft – 50 Film-Momente fürs Leben. Das Buch erscheint am 3. September im Herder-Verlag. (sys)