Das jüngste Werk von Harald Naegeli:
Strichmännchen an der Wand des
Beinhauses der Kirche St. Peter und Paul.
Schweiz

Abt Urban Federer über Spray-Aktion: «Der Ort ist richtig gewählt»

«Ich stamme vom bürgerlichen Zürichberg, wo klar war, dass der Sprayer von Zürich unsere Stadt verschandelte», sagt Abt Urban Federer. Nun würdigt er Harald Naegelis Totentanz auf der Ufnau: «Ein Totentanz will, dass Leben gelingt.»

Abt Urban Federer*

In der Vesper haben wir Mönche in Einsiedeln soeben gebetet: «Der Mensch gleicht einem Hauch, seine Tage sind wie ein flüchtiger Schatten. Streck deine Hände aus der Höhe herab und befreie mich» (Ps 144,4.7). Mit diesen Worten aus Psalm 144 sind wir Mönche uns betend einmal mehr unserer eigenen Vergänglichkeit bewusst geworden und haben unserer Hoffnung auf das Ziel des Lebens in Gott ausgedrückt.

Genius loci

Zum «Bilderzyklus der Vergänglichkeit» werde ich hier nichts sagen, das werden andere nach mir tun. Ich möchte mit Ihnen ganz allgemein in dem Raum verweilen, der uns die Musik hier eröffnet hat: in jenem der Kunst, wie sie an diesem Ort seit mehr als 1’000 Jahren gelebt wird.

Urban Federer, Abt des Klosters Einsiedeln
Urban Federer, Abt des Klosters Einsiedeln

Darum möchte ich mit der «art ufnau» als Kloster ja weiterhin auf der Insel präsent sein in einer Art, die weiterführt, zum Nachdenken bringt – und die damit ganz in der Tradition des Klosters nachhaltig ist. Gerade das Thema «Vergänglichkeit» gehört zu diesem Ort, der geprägt ist durch den Friedhof, die Gebeinkapelle an der Nordwand dieser Kirche und die Ikonographie der beiden Kirchenräume hier in St. Peter und Paul und in St. Martin, wo die Ausstellung mit dieser Tradition in Dialog tritt.

«Hätte nicht gedacht, dass er noch die Kraft hat, zu sprayen»

Ich nehme Sie jetzt mit in die ersten Tage dieses Jahres. Es war ein kalter, aber schöner Januarmorgen. Ich war erstmals um diese Jahreszeit auf der Insel. Das erste, was ich von Harald Naegeli sah, war ein Rollstuhl, der aus dem Schiff geladen wurde. War das nicht ein erstes Zeichen der Vergänglichkeit? Nein, ich hätte nicht gedacht, dass er noch die Kraft hat, hier auf der Insel zu sprayen. 

Innenraum der Kirche St. Peter und Paul auf der Insel Ufnau.
Innenraum der Kirche St. Peter und Paul auf der Insel Ufnau.

Er ist gezeichnet von der Krankheit, von der Vergänglichkeit. Dennoch durfte ich bald feststellen: Der Künstler blüht auf der Insel auf, geht nun doch zu Fuss, wenn auch sehr langsam. Er hat diesen speziellen Ort sofort von innen her verstanden und daraus Kraft geschöpft.

Versöhnung mit einem Künstler

Dabei war ich durchaus gespannt auf diese Begegnung: Ich stamme vom bürgerlichen Zürichberg, wo klar war, dass der Sprayer von Zürich unsere Stadt verschandelte. Als er 1979 identifiziert wurde, war das in meiner Gegend ein Aufatmen und ein Empören über diesen Mann. Das sagte ich Harald Naegeli auf der Insel an diesem Januarmorgen.

Die Kirche St. Peter und Paul auf der Insel Ufnau wurde in der Mitte des 12. Jahrhunderts errichtet.
Die Kirche St. Peter und Paul auf der Insel Ufnau wurde in der Mitte des 12. Jahrhunderts errichtet.

Damit ist die Begegnung auf der Ufnau auch zu einer Art Versöhnung geworden mit einem Künstler, den ich damals durch die Presse kennengelernt habe. Versöhnung braucht immer auch das eigene Zuhören, das eigene Weiter- und Umdenken, eine grundsätzliche Offenheit für Versöhnung. Ohne Versöhnung gelingt Leben nicht, gelingt Beziehung nicht. 

Die Kunst im Zentrum

Die Versöhnung passt zu diesem Ort. Christus versöhnt in dieser Kirche Gott und Mensch, Himmel und Erde. Er ist dafür über dem Chorbogen als Weltenrichter dargestellt. Diese Versöhnung durch Christus verkündigt die Kirche seit 2’000 Jahren, dieser Kirchenraum seit 1’000 Jahren. 

Harald Naegeli beim Medienrundgang zu seiner Ausstellung auf der Insel Ufnau.
Harald Naegeli beim Medienrundgang zu seiner Ausstellung auf der Insel Ufnau.

Geholfen hat mir für einen neuen Blick auf die Kunst Harald Naegelis konkret die Feststellung, dass er seine Person nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern seine Kunst. Wie in dieser Kirche seit 1’000 Jahren kann die Kunst Versöhnung erleichtern. Sie weist auf das Wesentliche hin, auch wenn die Wahrheit manchmal schmerzt, auch wenn Kunst provoziert. 

Provocatio, die Berufung

Nicht Naegeli als Person ist der Provokateur, wie ich in meiner Jugend meinte – dafür ist er viel zu zurückhaltend und fast scheu. Vielmehr provoziert seine Kunst, sie erschafft Wirklichkeit, indem sie meinen Vorstellungen und Gewohnheiten widersteht. Sie polarisiert, integriert, enttabuisiert, kreiert und tradiert auch. 

Weinflaschen – gestaltet vom Künstler Harald Naegeli.
Weinflaschen – gestaltet vom Künstler Harald Naegeli.

Seine Kunst provoziert. Provocare meint «herausfordern», noch wörtlicher: provocatio – «die Berufung». Ich übersetze diesen eigentlich rechtlichen Begriff für mich frei: die eigene Berufung zu leben im Hinblick auf die eigene Vergänglichkeit. Die Kunst Harald Naegelis provoziert, führt zurück auf einzelne Linien, Formen und rührt darum am Wesentlichen. Diese Kunst führt uns direkt zum Faktum, dass wir vergänglich sind, dass wir seit unserer Geburt auf den Tod hinleben.

Wozu genau sind wir berufen? 

Seit dem Mittelalter malen die Menschen Totentänze. Das sind Darstellungen von Menschen verschiedener Schichten und verschiedenen Alters, die mit dem Tod konfrontiert werden und so erkennen, dass sie sterben müssen. Und wesentlich daran ist: Alle sind betroffen, niemand kann sich dem Tod und der Verantwortung für sein Tun entziehen, mag er oder sie noch so reich und mächtig sein.

Auf dem Weg zur Ausstellung (v. l.): Marc Dosch, Verwalter Kloster Einsiedeln, Harald Naegeli und Anna-Barbara Neumann, Geschäftsführerin der Harald Naegeli Stiftung.
Auf dem Weg zur Ausstellung (v. l.): Marc Dosch, Verwalter Kloster Einsiedeln, Harald Naegeli und Anna-Barbara Neumann, Geschäftsführerin der Harald Naegeli Stiftung.

Damit müssen wir uns versöhnen, sonst kann das Leben nicht gelingen. Darum kommen ja auch hier in diesem Kirchenraum auf den Bildern der Nordwand die Dämonen auf das Leben zu. Wer würde heute bestreiten, dass es das Böse gibt? Es gibt auch unsere Ängste und unsere inneren Stimmen, die das Leben in dieser Endlichkeit nicht wollen, die es provozierend fragen: Wozu genau sind wir berufen? 

Der Ort ist richtig gewählt

Wer diese Dämonen nicht einfach verdrängt, sondern in der Kunst aus dem Unbewussten aufkommen lässt, macht sie für sich fruchtbar: Sie provozieren uns und rufen uns zur Versöhnung auf. Sie erinnern uns daran, dass wir Menschen Verantwortung für das Leben übernehmen und uns nicht einfach ihnen, unseren Dämonen, ausliefern sollen.

Naegeli-Strichmännchen auf den Gemäuern der Pfarrkirche Peter und Paul auf der Insel Ufnau.
Naegeli-Strichmännchen auf den Gemäuern der Pfarrkirche Peter und Paul auf der Insel Ufnau.

Nun ist die Nordwand auch von aussen her mit den Dämonen des Todes durch die Hand Harald Naegelis versehen worden. Sie waren nicht als Teil der Ausstellung geplant und ich hätte sie ihm, wie gesagt, kräftemässig nicht zugetraut. Aber ich muss gestehen: Der Ort ist richtig gewählt, weil er schon vor 1’000 Jahren dafür gewählt wurde.

Korrumpierbarkeit durch das Böse

Seine Zeichnungen führen aussen weiter, was hier drinnen schon lange vor Naegeli angelegt worden ist: Es ist vergängliche Kunst, die auf die Vergänglichkeit hinweist und darauf, dass wir unsere Dämonen der Verneinung anschauen und gar bekämpfen müssen. Mit dem Hinweis auf das angebaute Beinhaus provoziert Naegelis Kunst erneut: Mach etwas aus deinem Leben, die Zeit läuft. Die Sanduhr ist darum vom Westen her sichtbar. 

Für die Versöhnung ist der Ort schon vor 1’000 Jahren gewählt worden. In der Tradition des Christentums hat auch Jesus mit dem Bösen gekämpft: Er wurde, sagt die Bibel, vom Teufel in die Wüste geführt. Seine Antwort waren das Fasten, der bewusste Verzicht auf Macht und auf die Korrumpierbarkeit durch das Böse – und seine Hoffnung: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt» (Mt 4,4). Das Leben ist immer auch ein Kampf und wir tun gut daran, im Guten verankert zu sein. Davon spricht heute auch eine ganze Industrie von Videogames und Filmen.

Das Leben soll gelingen

Die «Dämonie aus dem Unbewussten», dieser Bilderzyklus der Vergänglichkeit, durch den Sie sich jetzt dann in der Kapelle St. Martin provozieren lassen können, könnte aktueller nicht sein. Die Kriege dieser Welt, vor allem jener in der Ukraine, stellen uns vor Augen, was es heisst, wenn unsere Dämonen entfesselt und nicht versöhnt werden: Brutalität und grausames Morden beherrschen ganze Gebiete unserer Erde. 

Kerze für die Opfer des Ukraine-Krieges in Einsiedeln im April 2022.
Kerze für die Opfer des Ukraine-Krieges in Einsiedeln im April 2022.

Die Folgen der Pandemie, die Spaltungen unserer Gesellschaften und die Belastung unserer Umwelt sind Dämonen, die uns provozieren müssen: Wählen wir den Tod, oder doch das Leben? Und wenn wir uns für das Leben entscheiden: Übernehmen wir die Verantwortung dafür? Der Weltenrichter in diesem Raum stellt uns diese Frage. Ein Totentanz wollte und will letztlich, dass Leben gelingt, dass es vor der Tatsache der Vergänglichkeit gelebt und dass Verantwortung übernommen wird.

Sehnsucht nach Versöhnung

Der Bilderzyklus der Vergänglichkeit befindet sich auf einer Insel, die etwas von Ewigkeit ausstrahlt. Er befindet sich in einer Kirche und neben einer Kirche, wo die menschlichen Dämonen schon seit Jahrhunderten künstlerisch dargestellt werden, in der Perspektive auf Versöhnung hin. 

Kerze für die Opfer der Corona-Pandemie in Einsiedeln im April 2022.
Kerze für die Opfer der Corona-Pandemie in Einsiedeln im April 2022.

In beiden Kirchen ist die Hauptrichtung jene nach dem Osten, nach dem Orient, dort wo die Sonne aufgeht, wo wir uns eben «orientieren» können. Denn hinter dem Kreuz, hinter dem Bösen, leuchtet die nie untergehende Sonne auf: der lebendige Christus, Ostern. Das ist die christliche Hoffnung. 

«Befreie mich»

Darum können wir Mönche in diesem Kampf mit dem Bösen noch heute in der Vesper rufen: «Streck deine Hände aus der Höhe herab und befreie mich.» Diese Haltung ändert die Perspektive der Vergänglichkeit, nicht diese selbst. Mit dieser müssen und dürfen wir uns auseinandersetzen. Dass dies auf der Insel Ufnau möglich wird und gelingen kann, dafür bedanke ich mich heute bei Ihnen allen. 

* Der Abt von Einsiedeln, Urban Federer (53), hat am Donnerstag die Ausstellung «Dämonie aus dem Unbewussten – Ein Bilderzyklus der Vergänglichkeit» in der Kirche St. Peter und Paul auf der Insel Ufnau eröffnet. Hier geht’s zur Website der «Art Ufnau».


Das jüngste Werk von Harald Naegeli: Strichmännchen an der Wand des Beinhauses der Kirche St. Peter und Paul. | © Martin Risch / Höfner Volksblatt March-Anzeiger
14. Mai 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!