Muslimin mit Kopftuch
Schweiz

«Diese Initiative stört den Religionsfrieden»

Zürich, 30.9.2015 (kath.ch) Die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» gebe ein Ziel vor, das sich nicht erreichen lasse, und sei völlig unnötig. Diese Haltung vertritt der Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti vom Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern. Mit Blick auf Frankreich, wo ein Burkaverbot gilt, stellt er sogar eine gegenteilige Wirkung fest.

Martin Spilker

«Diese Initiative stört den Religionsfrieden mehr, als dass sie ihn fördert», sagt Andreas Tunger-Zanetti einen Tag, nachdem das Volksbegehren des «Egerkinger Komitees» vorgestellt und dabei mehrfach Argumente wie Freiheit und Gleichberechtigung genannt wurden.

Im Zentrum Religionsforschung in Luzern gehört die Beschäftigung mit Lebensweise und Integration von Musliminnen und Muslimen in der Schweiz zum Alltag. Deshalb kann Tunger-Zanetti sagen, der Vorstoss unterstelle völlig abwegig, dass in unserem Land bald Massen von vollverschleierten Frauen anzutreffen wären. «Es gibt vielleicht zwei, drei Dutzend in der Schweiz wohnhafte Musliminnen, die einen Nikab tragen», so der Islamwissenschaftler, «und eine Trägerin der afghanischen Burka ist meines Wissens noch nie gesichtet worden.» Aus Forschungen in Frankreich wisse man, dass ein grosser Teil dieser Frauen unverheiratet sei und somit nicht vom Ehegatten zur Verschleierung gezwungen wird, wie die Initianten ebenfalls unterstellten.

Traditionelle Kleidung im Wandel

Doch Tunger-Zanettis Kritik ist viel grundsätzlicher. Kleidervorschriften wie ein Verschleierungsverbot seien zwar publikumswirksam, hätten sich aber in der Geschichte immer wieder als äusserst löchrig erwiesen. Nikabträgerinnen würden in Frankreich wohl gebüsst, verzichteten deshalb aber nicht auf ihre Kleidungform. Sie hätten diese gewählt, weil sie ihrem Körpergefühl entspreche, oft mit einem Element des stummen Protests gegen eine Kleidungs- und Blickkultur, die den perfekten Körper zum Mass der Dinge stilisiere und dabei die Persönlichkeit ignoriere. Folge eines gesetzlichen Verbots seien Bussen – oder der Rückzug dieser Frauen in die eigenen vier Wände, was kaum das Ziel eines freiheitlichen Staates sein könne. Oft schaue die Polizei auch einfach resigniert weg. Auch die vielen Ausnahmen, die das Initiativkomitee selber anbringe, wie beispielsweise für Sicherheitskräfte oder Brauchtumsanlässe, zeigten die Schwierigkeit, zwischen konkreten Verhüllungsformen zu unterscheiden.

Eine möglichst kleine Zahl vollverschleierter Frauen nennt auch Andreas Tunger-Zanetti als Ziel für die Integration von Musliminnen in der westlichen Welt. Doch lasse sich dies nicht über Kleidungsverbote erreichen. Er weist dabei darauf hin, dass traditionelle Kleidung – ob religiös, kulturell oder geographisch bedingt – immer im Wandel sei. Es gebe zudem auch andere Formen von eigenartiger Bekleidung. Auch hier gelte es, sich mit solchen Ausdrucksformen auseinanderzusetzen. Umgekehrt ist für den Islamwissenschaftler selbstverständlich, dass eine verschleierte Frau beispielsweise im Kontakt mit Behörden ihr Gesicht enthüllen müsse. Aber dazu brauche es, der Wissenschaftler sagt es noch einmal, keinen Verfassungsartikel.

Islam insgesamt angefeindet

Die Wirkung der Initiative geht aber über den Kreis der direkt Betroffenen hinaus. Wie bereits bei der von derselben Organisation lancierten Anti-Minarett-Initiative habe ein solcher politischer Vorstoss vielmehr eine einseitige und unsachgemässe Darstellung des Islam an sich zur Folge, befürchtet der Experte. Viele Musliminnen und Muslime dürften auch die mit einer solchen Initiative in der Öffentlichkeit präsenten Plakate und Diskussionen als Stimmungsmache gegen ihren Glauben empfinden, was dann umgekehrt wieder medial aktiven Gruppierungen wie dem Islamischen Zentralrat Schweiz in die Hände spiele. «Das wäre ja genau das Gegenteil von dem, was die Initianten angeblich erreichen wollen», gibt Tunger-Zanetti zu bedenken.

Die Initiative verkehre die Freiheit zum Zwang, sein Gesicht zu zeigen. Stattdessen appelliert der Islamwissenschaftler an eine wahrhaft liberale Haltung: Dass nämlich jeder das Recht haben soll, sich so zu kleiden, wie es ihm entspricht, soweit es nicht das Recht anderer beschneide. Nach Meinung von Andreas Tunger-Zanetti gibt es aber kein Recht darauf, allen Menschen in die Augen schauen zu können, und ebenso wenig das Recht, im öffentlichen Raum vom Anblick der befremdlichen Kleidung anderer verschont zu bleiben. (ms)

Kommentar zur Verhüllungsinitiative: Der Mehr-Wert des Islam

Zur lancierten Verhüllungsinitiative: Freiheit fürs Gesicht oder Freiheit für religiöse Symbole?

Muslimin mit Kopftuch | © Georges Scherrer
30. September 2015 | 15:55
Lesezeit: ca. 2 Min.
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Schleier war auch im Christentum gefordert

Anknüpfend an altorientalische Schleierformen, waren auch in der christlichen Gemeinde zumindest im Gottesdienst die Frauen schon sehr früh gehalten, das Haar zu bedecken. Wie Andreas Tunger-Zanetti vom Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern erklärt, forderte der Kirchenvater Tertullian um das Jahr 200, dass auch unverheiratete junge Frauen beim Verlassen des Hauses von Schmuck und schöner Kleidung absehen und sich verschleiern sollen – als Ausdruck christlicher Tugendhaftigkeit. Als Vorbild stellte Tertullian der damals jungen Gemeinschaft der Christen ausgerechnet die traditionell verschleierten Araberinnen hin – lange vor der Entstehung des Islams. Diese Kleidungssitte wurde später auch auf die Nonne als «Braut Christi» übertragen, wie der Wissenschaftler erklärt, und später vom Islam erneut aufgenommen. (ms)