«Wir wollen die katholische Tradition nicht Ewiggestrigen überlassen»

Luzern, 27.1.18 (kath.ch) Am 29. Januar findet im Romerohaus in Luzern der 50. Katholische Dialog statt. Erwin Koller, der mit wenigen Ausnahmen die ersten 35 Dialoge zwischen 2009 und 2015 geleitet hat, zieht in diesem Interview Bilanz über dieses Forum, das er als eine Art Denklabor versteht. Es habe auch in Zukunft seine Daseinsberechtigung, sagt der bekannte Moderator und katholische Theologe.

Vera Rüttimann

Wie verlief die Gründungsgeschichte der «Katholischen Dialoge»? 

Erwin Koller: Am Anfang standen Fragen wie: Wie können wir die Erkenntnisse der modernen Theologie in die Praxis der Kirche übersetzen? Und: Welche Erfahrungen der Menschen, die in Seelsorge und Verkündigung der Kirche tätig sind, muss die theologische Reflexion aufnehmen? Dafür Wege zu finden, hat Leo Karrer im Jahr 2002, damals Professor für Pastoraltheologie an der Universität Freiburg, einige Engagierte zusammengerufen – unter anderem Alois Odermatt, Paul Jeannerat, Beatrice Hügli und mich –, um das «Forum für Offene Katholizität»  (FOK) zu gründen.

Zuerst führten wir Tagungen in Freiburg und Bern durch, dann gelangten wir im Sommer 2009 an das Romerohaus, um an diesem Ort der geistigen Auseinandersetzung «Katholische Dialoge» zu veranstalten.

Wir sind überzeugt, dass wir dies im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils tun.

Die «Katholischen Dialoge» plädieren für eine offene Katholizität. Was ist damit gemeint?

Koller: Wir stützten uns bewusst auf die katholische Tradition und wollten sie nicht den Ewiggestrigen überlassen, die ja meist mit Tradition nur das 19. Jahrhundert und allenfalls das Konzil von Trient im Sinn haben. Die Überlieferung der Kirche ist viel reicher und vielgestaltiger. Oft kennen auch gute Katholikinnen und Katholiken ihre Glaubensgeschichte kaum. Für diese weite Katholizität wollen wir die Augen öffnen und sind überzeugt, dass wir dies im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils tun. Wir haben dieses Forum für eine offene Katholizität bewusst auch gegen innerkirchliche Tendenzen geschaffen, die das Konzil zurückbuchstabieren oder gar in Frage stellen.

Wer soll angesprochen werden?

Koller: Wir rufen an Montagnachmittagen bewusst Leute zusammen, die im kirchlichen Dienst stehen oder stark an theologischen Fragen interessiert sind, damit sie als Multiplikatoren wirken. Sie sollen gutes Brot bekommen, keine Steine, aber auch kein Junkfood oder billige Appetizer. Sie stehen mit dem, was sie da reflektieren, ja nachher auf der Kanzel, vor Schulklassen oder erwachsenen Gläubigen.

An welche Referenten erinnern Sie sich besonders gern?

Koller: Ich erinnere mich gerne an viele exzellente Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner aus allen Bereichen der theologischen Lehre und kirchlichen Praxis der Schweiz. Namentlich erwähnen möchte ich nur einige ausländischen Gäste, die wir meist im Kontext der Herbert-Haag-Preisverleihungen gewinnen konnten: Pfarrer Helmut Schüller von der Pfarrer-Initiative in Österreich, Pat Farrell, ehemalige Präsidentin der US-amerikanischen Frauenorden, Jesuitenpater Klaus Mertes vom Kolleg Sankt Blasien im Schwarzwald,  Klaus-Peter Jörns, evangelischer Theologe und Soziologe in Berlin oder die Genderforscherin und Schulschwester vom Heiligen Franziskus, Rebeka Jadranka Anić aus Kroatien.

Es waren grundehrliche und ungeschönte, aber auch ermutigende Berichte aus der Praxis zu hören.

Über sechs Monate pro Jahr wird an diesen Veranstaltungen über die Thesen je einer Person der Theorie und der Praxis gesprochen. Hat sich dies bewährt?

Koller: Nun ja, daraus entstanden nicht selten völlig überraschenden Perspektiven aus der Geschichte des Christentums, die zeigten, dass etwa Frauen in früheren Jahrhunderten sehr wichtige kirchliche Positionen einnahmen. Oder es waren grundehrliche und ungeschönte, aber auch ermutigende Berichte aus der Praxis zu hören, die von Verantwortlichen auf eine oft berührende Weise reflektiert und theologisch aufgearbeitet wurden.

Sie haben ein treues Stammpublikum. Was wird unternommen, um dieses zu vergrössern und auch Jüngere zu erreichen?

Koller: Wir hatten gelegentlich über hundert Personen, aber normalerweise sind schon fünfzig eine gute Zahl. Wenn wir über die sozialen Medien auch jüngere Menschen ansprechen, stellen wir fest, dass Seelsorgerinnen und Seelsorge nach einem intensiven Wochenende oft nicht mehr so selbstverständlich den freien Pfarrermontag für ihre Weiterbildung einsetzen.

Ältere Gläubige schätzen befreiende Perspektiven für den Glauben.

Wahrscheinlich wird die nächste oder übernächste Generation irgendwann neue Formate entwickeln. Doch wir sind entschieden der Meinung, dass auch die 60- bis 80-Jährigen es verdienen, dass man sie ernst nimmt. Sie sind oft noch von rigiden religiösen Formen geprägt. So schätzen sie es, wenn man ihnen befreiende Perspektiven für den Glauben aufzeigen kann.

Die grossen Mystiker früherer Jahrhunderte machen uns Mut.

Was haben diese Dialoge bei den Beteiligten bewirkt?

Koller: Gute Dialoge sollen überzeugen, nicht bekehren oder irgendwas bewirken. Im Denklabor, das wir anstreben, finden Reifungsprozesse zeitgemässen Glaubens statt. Da bekommen Menschen eine Stimme und tauschen sich aus, die nach dem offiziellen Kanon der Rechtgläubigkeit oft kaum geduldet wären. Doch solche Erfahrungen haben schon die grossen Mystiker früherer Jahrhunderte gemacht. Sie machen uns Mut, es auch heute zu tun.

Warum braucht es den «Katholischen Dialog» auch in zehn Jahren noch?

Koller: Das Zusammenleben in unseren modernen Gesellschaften und Kulturen stellt die Menschen vor viele Fragen, welche Kirche und Theologie noch kaum wahrnehmen, geschweige denn darauf zukunftsweisende Antworten hätten.

Die katholische Kirche steckt erst am Anfang einer Öffnung zur Moderne und Postmoderne.

Die katholische Kirche steckt erst am Anfang einer Öffnung zur Moderne und Postmoderne. Welche Freiheit hat unter den Bedingungen der Hirn- und Genforschung die menschliche Person, das Ich, das alle im Munde führen? Was sagen wir als Mitglieder einer Weltkirche, wenn jede Nation zu sagen beginnt: Wir zuerst! Welche Rolle kommt dem Glauben zu, wenn Menschen zu Recht eine geistige Heimat suchen? Wie verhält sich die religiöse Vernunft zur naturwissenschaftlichen und technischen Rationalität? Angesichts dieser Fragen wird es ein Forum für offene Katholizität in zehn Jahren drängender denn je benötigen.

Am Montag findet der 50. Dialog unter dem Titel «Alte Klamotten oder uneingelöste Visionen? Zur Bedeutung biblischer Werte heute» mit Detlef Hecking und Nessina Grütter statt. Was erhoffen Sie sich vom Jubiläumsdialog?

Koller: Das hat doch schon jeder und jede erlebt, wie eine biblische Geschichte berühren und in Richtungen weisen kann, die uns zuvor gar nicht bewusst waren. Doch oft muss man diese Geschichten unter dem Schutt hervorholen, weil alte Klamotten darübergestülpt wurden. Von einer rechthaberischen Dogmatik oder in unsensibler Gedankenlosigkeit. Ich zweifle nicht, dass Thomas Staubli, mein Nachfolger als Moderator der «Katholischen Dialoge», mit den beiden Referierenden jene visionäre Kraft erahnen lässt, die es in der biblischen und christlichen Überlieferung zu entdecken gilt. Und genau das ist ja unser Urmotto.

Hinweis: Das «Forum für offene Katholizität» findet am Montag von 14.00-17.30 Uhr im Romerohaus Luzern statt.

 

Video: Leo Karrer, Initiator der katholischen Dialoge, zum 50-Jahr-Jubiläum:

«Die Kirche wird als etwas unheilbar Konservatives dargestellt»

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/wir-wollen-die-katholische-tradition-nicht-ewiggestrigen-ueberlassen/