«Die Kirche muss wieder in Form kommen»: Was bedeutet der Synodale Weg für die Schweiz?

Der Synodale Weg in Deutschland ist teilweise mutiger als die Schweizer Bischöfe. Der Theologe Daniel Kosch hofft, dass die Impulse aus Frankfurt auch die Schweiz inspirieren. Er dankt der Schweizer Dominikanerin Scholastika Jurt für ihre pointierten Äusserungen. Und er nimmt Stellung zu den Bischofsernennungen in Lugano und Vaduz.

Raphael Rauch

In Frankfurt ist die Schweizer Dominikanerin Scholastika Jurt mit pointierten Voten aufgefallen. Welchen Eindruck haben Sie von Schwester Scholastika?

Daniel Kosch*: Ich habe mich sehr gefreut, dass mit Schwester Scholastika Jurt eine Ordensfrau aus der Schweiz vom Synodalen Weg als Beraterin zugezogen wurde. Wie auch andere Ordensleute verkörpert sie für mich eine Form zeitgemässen Christseins, die von tiefer Spiritualität, klarer Ausrichtung auf das Evangelium und sicherem Gespür für die Zeichen der Zeit geprägt ist.

Was ist der grösste Erfolg des Synodalen Wegs?

Kosch: Die wichtigsten Ergebnisse sind meines Erachtens die drei klar angenommenen Grundtexte aus den Synodalforen zu den Themen Macht, Frauen und Sexualität sowie der übergreifende Orientierungstext zu den theologischen Grundlagen des gesamten Synodalen Weges. Die Texte haben eine beachtliche theologische Qualität und Differenziertheit. Sie erhielten, wie auch die Handlungstexte, die Zustimmung von jeweils mehr als zwei Dritteln der gesamten Synodalversammlung, zwei Dritteln der Bischöfe und zwei Dritteln der Frauen und nicht-binären Mitglieder. Die Form und das Vorgehen des deutschen Synodalen Weges kann als Erfolgsmodell gewertet werden. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass dieses Modell weiterentwickelt werden muss.

Und die grösste Niederlage?

Kosch: Auf der Ebene der erzielten Ergebnisse ist das Scheitern des Grundtextes zur Sexualität an der fehlenden Zwei-Drittel-Mehrheit der Bischöfe zweifellos der grösste Negativ-Punkt. Dies nicht nur, weil das Abstimmungsresultat für eine tiefe Krise sorgte, sondern auch, weil damit ausgerechnet jener Grundtext scheiterte, der direkt mit konkreten Lebensrealitäten der Kirchenmitglieder zu tun hat. Allerdings hat die Synodalversammlung daraus Lehren gezogen, so dass die oft etwas billige Rede von der «Krise als Chance» in diesem Fall nicht unberechtigt ist. Zudem wurden wichtige Aspekte in den Handlungstext zum Umgang mit geschlechtlicher Diversität integriert und wurden auf diese Weise Teil des Gesamtergebnisses.

Viele Anträge wurden entschärft, um Mehrheiten zu gewinnen. Wie bewerten Sie das?

Kosch: Das ist keine Niederlage im eigentlichen Sinn, aber doch ein gravierendes Problem, dass die Zustimmung der nötigen Mehrheit der Bischöfe aufgrund der Macht-Asymmetrie nur mit teils erheblichen Abschwächungen der Texte erreicht werden konnte. So wurden aus manchen Forderungen «Aufträge, die Frage zu prüfen». So wurde das Votum für die Zulassung der Frauen zum gesamten sakramentalen Amt abgeschwächt. Gewünscht wird die Zulassung zum Diakonat, bezüglich der Frauenordination wird lediglich darum gebeten zu klären, ob die päpstliche Lehre die Kirche unfehlbar bindet. Vielleicht wäre es mit mehr Zeit und anderen Beratungsformaten möglich gewesen, die Grenzen des Zustimmungsfähigen noch genauer auszuloten.

Manche sagen, das kollektive Outing queerer Kirchenleute in der ARD-Doku «Out in Church» habe mehr erreicht als der Synodale Weg. Wie sehen Sie das?

Kosch: Ich sehe das etwas anders: Zwischen «Out in Church» und dem Synodalen Weg kam es zu einer positiven Wechselwirkung. Beide Entwicklungen haben voneinander profitiert, sich gegenseitig unterstützt und so die Voraussetzungen für entsprechende Beschlüsse der Bischofskonferenz geschaffen.

Die deutschen Bischöfe haben ihre Anstellungsordnungen verändert. In der Schweiz haben sich die Bischöfe noch nicht zu solch einem Schritt durchringen können. Kann und sollen die Körperschaften hier mehr Druck machen? 

Kosch: «Druck machen» ist meines Erachtens nicht der richtige Ausdruck. Es gilt, Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn letztlich geht es darum, dass die Kirche ihre Haltung aus Respekt für die Vielfalt von Lebensformen, sexuellen Identitäten und Lebensgeschichten aller Menschen wie auch der Seelsorgenden ändert. Hier erfüllt sich ganz konkret die biblische Verheissung, dass es die Wahrheit ist, die frei macht, und nicht der Druck, der etwas erzwingt. Selbstverständlich können und sollen die Körperschaften auch darauf hinweisen, dass öffentlich-rechtlich anerkannte Kirchen an die Grundrechte und damit an das Diskriminierungsverbot gebunden sind.

Warum stellen die Schweizer Bischöfe keinen Antrag beim Papst auf Dispens vom Pflichtzölibat – mit Berufung auf die Amazonas-Synode?

Kosch: Diese Frage sollten Sie den Bischöfen stellen. Der Diskussion zum entsprechenden Handlungstext des Synodalen Weges habe ich jedoch entnommen, dass es bei diesem Thema nicht um «Dispens» und damit um «Ausnahmeregelungen» gehen soll, sondern darum, positiv zu anerkennen, dass Ehelosigkeit als Lebensform nur gelingen kann, wenn sie frei gewählt ist. Das Charisma der Ehelosigkeit bekäme mehr Leuchtkraft und Zeugnischarakter, wenn es nicht mehr Bedingung oder Preis für die Priesterweihe wäre. Der Zölibat würde also nicht wie befürchtet geschwächt, sondern gestärkt.

Die Schweiz ist nicht Deutschland. Inwiefern können sich Katholikinnen und Katholiken in der Schweiz trotzdem auf die Texte des Synodalen Weges berufen – und vorwärts machen?

Kosch: Ich empfehle allen, ob sie Reformen wollen und den Synodalen Weg gut finden, oder ob sie dem Vorhaben gegenüber kritisch eingestellt sind, die Texte möglichst unvoreingenommen und aufmerksam zu lesen, die der Synodale Weg verabschiedet hat. Das ist keine leichte Kost, aber lohnend. Und es hilft bei Überlegungen, was «vorwärts machen» konkret heisst. Denn es geht ja nicht um Reformen um der Reformen willen, sondern darum, dass die Kirche wieder «in Form» kommt, also re-formiert wird – im wörtlichen und nicht im konfessionellen Sinn!

«Es geht um die Zeichen der Zeit.»

Die auf dem Synodalen Weg geleistete theologische Arbeit hat insbesondere in Erinnerung gerufen, dass für die Klärung der Frage, was heute an der Zeit ist, nicht nur die traditionellen Quellen Bibel, Tradition, Lehramt, sondern auch die Zeichen der Zeit und der Glaubenssinn des Volkes Gottes wichtige Erkenntnisorte sind.

Welche innovativen Schritte könnten in der Schweiz gegangen werden – inspiriert vom Synodalen Weg?

Kosch: Aus meiner Sicht lassen sich aus den Erfahrungen mit dem Synodalen Weg in Deutschland vier Lehren für die Schweiz ziehen. Erstens: Synodalität braucht Verbindlichkeit sowie Gefässe und Prozesse, in denen sie konkret erprobt und entwickelt werden kann. Zweitens: Synodale Prozesse sollen sich mit wichtigen Krisenherden und Herausforderungen befassen und zu Weichenstellungen für die Zukunft führen. Das erfordert thematische Konzentration, theologische Kompetenz und den Fokus auf verbindliche Ergebnisse. Punktuelle synodale Events und Synodalität als Nebenbeschäftigung bringen wenig. Drittens: Weil die grossen Fragen mehrheitlich gemeinsame Fragen sind und weil es auch um Sichtbarkeit und Transparenz geht, ist die nationale Ebene für synodale Vorhaben wichtig. Das gilt trotz sprachlicher und kultureller Vielfalt auch für die Schweiz. Viertens: Synodalität ist immer kontextuell und immer ein Lernprozess. Es gilt, von den Erfahrungen in Deutschland und anderswo zu lernen, aber nicht, sie zu kopieren.

Die deutschen Bischöfe wollen Missbrauchstäter stärker kontrollieren – unter anderem mit einer Kontaktperson, die selbst bei Bistumswechseln die Biographie des Täters beobachtet. Wäre so etwas auch für die Schweiz sinnvoll?

Kosch: Diese Frage ist meines Erachtens verfrüht. Wenn die Ergebnisse des Pilotprojektes zur Aufarbeitung im Herbst vorliegen, wird zu fragen sein, was es bei uns an Massnahmen braucht.

Sie haben sich als Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) dafür stark gemacht, dass nationale Gefässe geschaffen werden, um Synodalität auch auf schweizweiter Ebene zu institutionalisieren. Was wird der nächste Schritt sein?

Kosch: Diese Frage müssen die Bischofskonferenz und die RKZ mit den grossen Verbänden und mit den Reformgruppen klären. Ich bin gern bereit, meine Erfahrungen mit dem Synodalen Weg einzubringen und denke, dass auch Bischofsvikar Georg Schwickerath, der die Schweizer Bischofskonferenz vertreten hat, dazu bereit ist. 

«Die Zeit wird knapp.»

Welcher Aspekt scheint Ihnen mit Blick auf den Synodalen Weg noch wichtig?

Kosch: Entsprechende Schritte jetzt parallel zur weltweiten Synode zu gehen, hätte den Vorteil, dass die Prozesse sich gegenseitig inspirieren und stärken könnten. Zudem laufen der Kirche nicht nur die Mitglieder davon, sondern auch die Zeit wird knapp. Das Zeitfenster, während dem die finanziellen und personellen Spielräume für selbstbestimmte Reformen noch vorhanden sind, wird immer kleiner. 

Schon die Synode 72 hat das Frauenpriestertum gefordert – und nichts ist passiert. Papst Franziskus lehnt das Frauenpriestertum ab – wenn auch nicht so kategorisch wie Papst Johannes Paul II. Wie geht’s hier weiter?

Kosch: Der Grundtext zum Thema «Frauen in Diensten und Ämtern» drängt darauf, die Frage auf weltkirchlicher Ebene wieder ins Gespräch zu bringen. Die lehramtlichen Argumente gegen die Frauenordination werden immer öfter und immer deutlicher in Frage gestellt, während das Bewusstsein für die gleiche Würde aller Menschen und aller Getauften wächst. Dennoch rechne ich eher mit schrittweisen Veränderungen als mit einer grossen Wende. Es wäre sehr wichtig, dass die Weltsynode diesbezüglich deutliche Signale setzt. Wenn diese ausbleiben, wird das bei uns von vielen als Scheitern wahrgenommen. Synodalität kommt ohne eine theologische Stärkung der Rolle der Frauen nicht aus. Die «administrative Dimension», die Papst Franziskus ins Spiel gebracht hat, ist da nicht hilfreich.

In unserer Nachbarschaft werden bald zwei Bischofssitze besetzt: der Bischofsstuhl von Lugano und von Vaduz. Laut Kirchenrecht soll der Nuntius nicht nur Kleriker befragen, sondern auch «Laien, die sich durch Lebensweisheit auszeichnen, einzeln und geheim». Die neue Kurienverfassung «Praedicate Evangelium» sieht vor, dass bei der Besetzung von Bischofsstühlen «in geeigneter Form auch die Mitglieder des Gottesvolkes der betreffenden Diözesen» einbezogen werden. Haben Sie Ideen, wie so ein Konsultationsprozess aussehen könnte?

Kosch: Mit solchen Konsultationsprozessen gibt es bereits Erfahrungen. Zum einen wurden vor entsprechenden Entscheidungen einzelne Laiinnen und Laien gefragt, zum anderen gab es breite Möglichkeiten, Vorstellungen zum Persönlichkeits- und Kompetenzprofil einzubringen. Zudem hat die RKZ im Zusammenhang mit der Krise um Wolfgang Haas eine Studie in Auftrag gegeben, die entsprechende Vorschläge formuliert hat. Konkrete Verfahren müssten allerdings berücksichtigen, dass die rechtliche Situation von Bistum zu Bistum verschieden ist. Wichtig fände ich, dass diese Verfahren transparent gestaltet würden. Das Bischofsamt ist ein öffentliches Amt mit hoher Sichtbarkeit und grosser Verantwortung. Es würde das Amt stärken, wenn die Auswahlkriterien und das Auswahlverfahren transparent und nicht von Geheimhaltungsvorschriften geprägt wären.

Wissen Sie, ob in der Vergangenheit auch Vertreterinnen und Vertreter der Kantonalkirchen vom Nuntius befragt wurden?

Kosch: Im Bistum St. Gallen ist mit dem Katholischen Kollegium das Kirchenparlament in die Wahl eingebunden, im Bistum Basel hat die Diözesankonferenz ein Mitwirkungsrecht, der auch Vertretungen der kantonalkirchlichen Organisationen angehören. Die Konsultationsprozesse des Apostolischen Nuntius sind zwar geheim, aber ich habe Grund zur Annahme, dass er auch schon Mitglieder staatskirchenrechtlicher Behörden einbezogen hat.

* Der Theologe Daniel Kosch beobachtet für die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) den Synodalen Weg in Deutschland. Er war bis Ende November 2022 RKZ-Generalsekretär. Kosch antwortete schriftlich auf die Fragen von kath.ch.


Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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