Jesus hatte keine Ordination. Warum können im Judentum alle einen Gottesdienst leiten?

In der katholischen Kirche dürfen nur Priester eine Messe leiten. Eine Praxis, die Jesus nicht kannte. Als Jude konnte Jesus ohne Ordination einen Gottesdienst feiern. Hauptsache, zehn Männer waren anwesend. Rabbiner haben in einem jüdischen Gottesdienst keine exponierte Rolle.

Raphael Rauch

Die Bibel kennt Begriffe wie Hohepriester und Rabbiner. Welche Formen der Ordination kannte das Judentum zur Zeit Jesu?

Alfred Bodenheimer*: Das lässt sich so genau schwer sagen. Grundsätzlich beruht die rabbinische Ordination auf der «Smicha» (Aufstützen), einem heute institutionalisierten Ordinationsbegriff, der ursprünglich einen symbolischen Akt des Aufstützens eines Lehrers auf seinem Schüler beruhte. So wurde dieser ermächtigt, kraft seines Wissens und seiner Persönlichkeit ebenfalls als Lehrer und Rechtsentscheider zu wirken. Der Titel «Rabbi», wie er in den jüdischen Quellen verwendet wird, taucht erst bei Persönlichkeiten aus der Zeit nach Jesus systematisch auf.

Und was ist mit den Hohenpriestern?

Bodenheimer: Die Hohepriestergeschichte war viel schwieriger, weil das, im Gegensatz zum rabbinischen Amt, ein politisches Amt mit viel Einfluss bedeutete. Hohepriester kamen in der Zeit Jesu in der Regel aus der sadduzäischen Richtung. Das Amt wurde oft von Angehörigen reicher Familien aus dem Priestergeschlecht den eigentlichen Machthabern abgekauft. Entsprechend genossen die Hohenpriester zu dieser Zeit oft wenig moralischen Kredit.

Ist die Smicha Brauchtum, eine Art Gewohnheitsrecht – oder ein kodifiziertes Recht?

Bodenheimer: Man kann wohl bei der Ordination von Rabbinern von einer Form des Gewohnheitsrechts sprechen. Heute gibt es dafür eine Art informeller Kodifikation, die aber eigentlich darauf beruht, welche Ordination von entscheidenden Gremien anerkannt wird. 

Das Lehramt der katholischen Kirche beruft sich auf die apostolische Sukzession. Alle Priester werden von Bischöfen geweiht, die sich auf Petrus und damit auf Jesus berufen. Gibt es im Judentum etwas Ähnliches, gewisse Rabbiner-Dynastien?

Bodenheimer: Natürlich gibt es Dynastien von Rabbinern, in denen es Abfolgen bekannter Rabbiner gibt, und im chassidischen Judentum wird innerhalb dieser Dynastien auch der Rang des «Rebbe», also der Führungsgestalt einer chassidischen Gruppe, vererbt. Aber das hat eigentlich mit einer Rückberufung auf biblische Urgestalten nichts zu tun. Gleichzeitig waren Rabbiner seit der Zeit der Mischna, also dem 2. Jahrhundert der Zeitrechnung, immer auch Mitwirkende am Weiterbau des von Moses überlieferten Gesetzes.

Der Luzerner Neutestamentler Walter Kirchschläger ist überzeugt, dass Jesus mit Frauen Pessach gefeiert hat. Ist das aus jüdischer Sicht plausibel? Oder wäre das besonders anstössig gewesen?

Bodenheimer: Das ist eine Frage, die ich so nicht beantworten kann. Meinen kurzen Recherchen zu der Frage ergeben, dass sich Experten der jüdischen Geschichte uneins sind, was aus den Quellen zum Verhalten im Judentum aus der Zeit der Mischna hervorgeht.

«Ein Rabbiner ist klassischerweise ein Rechtsgelehrter.»

Voraussetzung für einen orthodoxen jüdischen Gottesdienst ist der Minjan: zehn religiös mündige männliche Juden müssen anwesend sein. Warum braucht es keinen Rabbiner?

Bodenheimer: Ein Rabbiner ist klassischerweise ein Rechtsgelehrter, er hat keine Funktion bei der Gestaltung des Gottesdienstes – auch wenn er natürlich, wie jeder andere, der dazu imstande ist, vorbeten oder aus der Torah vorlesen kann.

Was unterscheidet einen Gottesdienst mit einem Rabbiner von einem Gottesdienst ohne einen Rabbiner?

Bodenheimer: Im Wesentlichen nichts. Man pflegt, zumindest in orthodoxen Synagogen, mit der lauten Wiederholung des zuerst leise gebeteten Achtzehngebets zu warten, bis der Rabbiner das Gebet beendet hat. Das ist eine Art Ehrerweisung, die aber mit der Substanz des Gottesdienstes nichts zu tun hat. In manchen Synagogen hält der Rabbiner eine Predigt, das ist aber nicht zwingender Teil des Gottesdienstes. Überdies kann auch ein anderes Gemeindemitglied einen Gedanken zum Wochenabschnitt oder Ähnliches mit der Gemeinde teilen.

Welche Rolle hat der Rabbiner genau im Gottesdienst?

Bodenheimer: Im Prinzip keine. Höchstens dann, wenn es zu Gestaltungsfragen kommt und die Mitglieder unsicher sind, ob man ein bestimmtes Gebet sagt, was je nach Ausrichtung des Gottesdienstes nach einem bestimmten regionalen Brauch variieren kann – oder nach einem bestimmten Anlass wie einem Festtag oder dem Neujahrstag. Dann kann der Rabbiner allenfalls befragt werden. Oder wenn man nicht sicher ist, ob in der Torahrolle ein Buchstabe falsch geschrieben ist, dann wird die Expertise des Rabbiners herangezogen. Das sind aber absolute Ausnahmefälle. Eine institutionalisierte Rolle des Rabbiners gibt es nicht.

«Entscheidend ist, dass die Dinge rituell richtig ablaufen.»

Welche Gebete und Riten dürfen alle Juden praktizieren – und welche sind einem Rabbiner vorbehalten?

Bodenheimer: Grundsätzlich dürfen alle Juden alles praktizieren, aber natürlich ist mit der Institutionalisierung des Gemeinderabbinats vieles an Rabbiner übergegangen. Wirklich entscheidend ist, dass die Dinge rituell richtig ablaufen – in manchen Fällen, wie bei Hochzeiten oder Scheidungen, entscheidet dies über ihre rechtliche Verbindlichkeit. Deshalb sollte eine Hochzeit immer von einem Rabbiner geleitet werden, für eine Scheidung braucht es gar ein ganzes Rabbinatsgericht. Für Beschneidungen gibt es Experten, die aber keine Rabbiner sein müssen.

Sie schreiben jüdische Krimis. In Ihren Krimis suchen die Menschen Rabbi Klein vor allem dann auf, wenn sie Probleme haben, zum Beispiel in Fragen der Rechtsauslegung oder bei privaten Problemen. Kann man sagen: Solange man keine Probleme hat, braucht man keinen Rabbiner?

Bodenheimer: Das ist schön gesagt. Aber denken Sie daran, dass Rabbi Klein immer wieder auch Unterricht gibt, etwa den Talmudkurs in «Kains Opfer» oder den Kurs für jüngere Mitglieder in «Ihr sollt den Fremden lieben». Natürlich können auch andere Leute mit ausreichendem Wissen unterrichten. Aber ein Rabbiner ist in der Regel immer auch ein Lehrer.

Macht aus jüdischer Sicht die katholische Ordinationspraxis Sinn? Für mich klingt sie nicht sehr jesuanisch.

Bodenheimer: Dazu kann ich mich nicht äussern, ich habe weder die akademische noch die institutionelle Kompetenz dazu.

Welche konservativen und orthodoxen Strömungen erlauben Rabbinerinnen? 

Bodenheimer: Im nichtorthodoxen Judentum sind Rabbinerinnen schon seit vielen Jahren im Amt. Die erste Reformrabbinerin, Regina Jonas aus Deutschland, wurde im Holocaust ermordet. In den 1970er-Jahren begannen in den USA die Frauenordinationen. In der Orthodoxie ist das weiterhin umstritten. Es gibt Frauen, die ordiniert worden sind. In ganz vereinzelten modern-orthodoxen Gemeinden Israels fungieren Rabbinerinnen. Aber insgesamt ist hier die Akzeptanz noch niedrig.

Die Kirchengeschichte hat Figuren wie Junia entdeckt, die apostelhaft gewirkt haben soll. Gibt es aus dem frühen Judentum ähnliche Beispiele?

Bodenheimer: Es gibt die biblische Richterin Debora, wobei «Richterin» im Richterbuch immer auch bedeutet, dass sie eine politische Leitfunktion hatte. Aus der Zeit der Mischna (2. Jahrhundert) ist insbesondere Bruriah bekannt, die Frau des Gelehrten Rabbi Meir, die mit den Gelehrten auf Augenhöhe diskutierte und Recht auslegte und deren Respekt besass.

Die oberste Reformierte Rita Famos findet, man könne nur mit sexistischen, patriarchalischen Argumenten die Frauenordination verweigern. Welche theologischen Gründe überzeugen Sie, die gegen Rabbinerinnen sprechen?

Bodenheimer: Ich spreche nicht gegen Rabbinerinnen. Im Moment beobachte ich, dass es in Israel auch aufgrund der politischen Krise zu einem auch religiösen Kulturkampf, selbst innerhalb der Orthodoxie, kommt. Darin spielt die Genderfrage eine nicht unerhebliche Rolle.

* Alfred Bodenheimer ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel. Er lebt in Basel und Jerusalem. Er ist auch erfolgreicher Krimi-Autor. Zuletzt ist von ihm «Mord in der Strasse des 29. November: Ein Jerusalem-Krimi» im Kampa-Verlag erschienen.


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