Rita Famos: «Ich dachte, jetzt stehen die Russen auf und gehen»

4000 Gäste aus 120 Ländern: Der Weltkirchenrat tagt in Karlsruhe. Mit dabei: Rita Famos (56), die Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Sie hofft auf Friedensimpulse für die Ukraine – und ist gegen eine Resolution, die Israel als Apartheid-Staat geisselt.

Raphael Rauch

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die russisch-orthodoxe Kirche scharf kritisiert: «Die russisch-orthodoxe Kirchenführung hat sich mit den Verbrechen des Krieges gemein gemacht.» Und sie stehe für eine «als Theologie verbrämte totalitäre Ideologie». Ist die Kritik berechtigt – oder zu scharf?

Rita Famos*: Ich fand’s stark. Ich dachte, jetzt stehen die Russen auf und gehen aus Protest. Doch dass sie sitzen geblieben sind, ist wie ein kleiner Funke Hoffnung. Sie hören zu – das wird nicht spurlos an ihnen vorbeigehen.

Was verbinden Sie mit Michail Gorbatschow?

Famos: Ich habe 1989 in Halle studiert – und natürlich war Gorbatschow ein Hoffnungsträger. Alle haben von «Glasnost» und «Perestroika» gesprochen. In dieser Zeit war er für mich eine wichtige Figur. Kaum war ich zurück in Bern, fiel die Mauer. Niemand von uns Studierenden hätte es bei meinem Abschied zu hoffen gewagt. Dieser Mann war verbunden mit dem Wandel. Gorbatschow hatte schon Jahre zuvor von Wandel gesprochen, aber niemand wollte daran glauben. Auch diese Erfahrung macht Hoffnung. Manchmal ist doch mehr möglich, als wir uns alle vorstellen können.

«Wir haben keine Alternativen, als den Dialog zu suchen.»

Die Schweizer Reformierten waren uneins, wie sie mit der russisch-orthodoxen Kirche umgehen sollen. Sie waren dafür, trotz aller Schwierigkeiten die Russen nach Karlsruhe einzuladen. Sind Sie zufrieden?

Famos: Ich glaube, dass wir keine Alternative haben, als den Dialog zu suchen. Wichtig war uns aber auch, dass Vertreter aus der Ukraine da sind, was nun der Fall ist. Sie wurden mehrfach und offiziell willkommen geheissen. Die russisch-orthodoxe Delegation ist hochkarätig besetzt. Ob es uns gelingt, mit Metropolit Antonij ins Gespräch zu kommen, kann ich nicht sagen. Allein dass er da ist und sich die Kritik anhört, ist schon ein Gewinn.

Warum?

Famos: Ich gehe davon aus, dass auch die russisch-orthodoxe Delegation von Karlsruhe verändert abreisen wird. Die kritischen Voten im ÖRK geben auch all den russisch-orthodoxen Kriegsgegnern eine Stimme, die sie nicht erheben können, weil sie mit gravierenden Repressalien rechnen müssen. Mit Kirchen auf theologischen Abwegen den kritischen Kontakt aufrecht zu erhalten, ist eine wichtige Aufgabe des ÖRK.

Inwiefern?

Famos: Die Bischöfin der Badischen Landeskirche hat daran erinnert, dass die deutschen Protestanten bereits 1948 als vollwertiges Mitglied zur Vollversammlung eingeladen wurden. Also zwei Jahre nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg! So konnte die Vollversammlung zu einem Ort des Dialogs, der Versöhnung und des Neuanfangs werden.

«Es ist wichtig, gemeinsam zu feiern, am Tisch zu sitzen, den Dialog und die Auseinandersetzung zu suchen.»

Mit welcher Botschaft sind Sie nach Karlsruhe gekommen?

Famos: Es ist wichtig, gemeinsam zu feiern, am Tisch zu sitzen, den Dialog und die Auseinandersetzung zu suchen. Ich komme gerade aus einem sehr dynamischen, ergreifenden Eröffnungsgottesdienst. Es hat gutgetan, zu erleben: Uns verbindet das Gebet und das gemeinsam gesprochene Glaubensbekenntnis sowie das Hören auf die Schrift. Wir können in liturgischer Vielfalt zusammen beten, zusammen singen, den Glauben bekennen. Das ist die Grundlage, auf der wir dann auch fighten können.

Der Ökumenische Rat der Kirchen ist wie eine christliche UNO. Bringt das viele Diskutieren etwas?

Famos: Die Früchte kommen oft nicht sofort, sondern erst Jahre später. Aber wenn wir zurückschauen, merken wir: Auf den Vollversammlungen wurde immer Zukunftsweisendes diskutiert und auf den Weg gebracht! In den 1960er-Jahren war schon Homosexualität ein Thema, in den 1980er-Jahren die ökologische Krise. Ja, hier geht es um wichtige Impulse für die Zukunft!

Aus Südafrika kommt ein Vorstoss, Israel als Apartheid-Staat zu verurteilen. Werden Sie das verhindern?

Famos: Es steht noch gar nicht fest, ob es zu einer Abstimmung kommt. Aus Palästina kam ein klares Signal, dass es kein Interesse daran gibt, Israel als Apartheid-Staat zu verurteilen. Ich selbst glaube nicht, dass wir damit die Situation eines einzelnen Menschen verbessern können. Zumal der Begriff Apartheid völlig deplatziert ist. Es gibt Palästinenserinnen und Palästinenser mit einer israelischen Staatsbürgerschaft. Dadurch haben sie volle Rechte am politischen Prozess. Das ist keine Apartheid.

Wie werden Sie die einseitige Verurteilung Israels abwenden?

Famos: Wir machen uns für eine doppelte Solidarität stark. Wir stehen an der Seite des jüdischen Volkes und verteidigen das Existenzrecht Israels. Ich war am Montag auch bewusst beim Jubiläum des Zionistenkongresses in Basel. Und trotzdem sind wir solidarisch mit den Menschen in Palästina und treten dafür ein, dass beide Völker friedlich zusammenleben können.

«Mich begeistert das biblische Bild vom gemeinsamen Mahl.»

Beim Eröffnungsgottesdienst in Karlsruhe hat eine junge US-Amerikanerin erzählt, wie sie mit Menschen in Indien, in Georgien und mit Geflüchteten aus Afghanistan in den USA zusammen das Brot geteilt hat. Verblassen theologische Debatten um Eucharistie und Transsubstantiation, wenn man konkrete Glaubenserfahrungen im Alltag macht?

Famos: Mich begeistert das biblische Bild vom gemeinsamen Mahl – und auch vom Brotbrechen. Es ist wichtig, zusammen am Tisch zu sitzen, das Brot zu brechen, Wein zu trinken, es gut zu haben. Natürlich wäre eine eucharistische Gemeinschaft schön und anstrebenswert – aber das Teilen und Miteinander-Essen im Hier und Jetzt ist nicht weniger wichtig. Wir nennen es Agape-Mahl, Liebesmahl.

Sie haben am Sonntag einen grossen Auftritt: Sie werden im ZDF-Gottesdienst predigen. Verraten Sie uns einen Gedanken Ihrer Predigt?

Famos: Ich werde über das Bild im Epheserbrief sprechen: «Ihr seid Hausgenossen Gottes.» (Eph 2,19) Und darüber, wie wir das Zusammenleben im Haushalt Gottes gestalten.

* Die Pfarrerin Rita Famos (56) ist Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz.


Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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