Kirche und Politik sind beides bedeutende Akteure der Zivilgesellschaft

Zürich, 8.2.19 (kath.ch) Wie hält es der Staat mit der Religion? Darf sich die Kirche in die Politik einmischen? – Zu diesen Fragen diskutierten im Restaurant Falcone in Zürich Verena Mühlethaler, Pfarrerin der Citykirche Offener St . Jakob, der Jurist Andreas Müller und SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr.

Vera Rüttimann

Die SP Zürich lud an diesem Abend in den festlichen Saal des Restaurants Falcone zu einem Thema ein, das vielen Leuten unter den Nägeln brenne, so SP-Kantonsrätin Sybille Marti in ihrer Begrüssung. Seit den Äusserungen unter anderem von CVP-Präsident Gerhard Pfister über die Rolle der Kirche in der Politik brodle das Thema in den Medien.

Wenn man sie vor zehn Jahren gefragt hätte, wie das Verhältnis von Kirche und Staat in der Schweiz sei, hätte sie nur wenig darüber gewusst. Die SP-Kantonsrätin sagt: «Heute ist mir klar: Das Verhältnis untereinander ist vielschichtiger und interessanter, als es auf den ersten Blick erscheint.»

Mitten hinein geworfen

Als Jacqueline Fehr 2015 ihr Amt als Regierungsrätin und die Direktion der Justiz und des Innern im Kanton Zürich übernahm, begann für sie ein neues Kapitel. Die SP-Politikerin  berichtete einer interessierten Zuhörerschar: «Ich habe nie daran gedacht, dass ich für dieses Thema einmal zuständig sein würde. Aber ich konnte mir zu Beginn auch nicht vorstellen, dass es mich einmal so fasziniert.»

«Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mich das Thema so fasziniert.»

Die Ausgangslage allerdings sei mit der beginnenden Flüchtlingskrise sehr komplex gewesen. Es sei daher ein Muss gewesen, sich tiefer mit dem Thema Religion zu befassen.

Sie habe erst später realisiert, «dass wir bei der Zuwanderung von Flüchtlingen kategorisch von Muslimen sprechen, dabei aber übersehen haben, dass mindestens die Hälfte der eritreischen Bevölkerung Christen sind.» Teile der Gesellschaft hätten damit einer Bevölkerungsgruppe, die zuwanderte, eine religiöse Identität verpasst.

Vorwärts in kleinen Schritten

In ihrer Arbeit sei sie auf zahlreiche kompetente Leute getroffen, so Jacqueline Fehr, die sich schon viele Jahre mit dem Thema Anerkennung von Religionsgemeinschaft auseinandersetzen würden. Sie nannte dabei als Stichwort das Jahr 1963, als der Kanton Zürich die katholische Kirche anerkannte und die katholische Körperschaft gebildet wurde.

Aus diesen Erfahrungen heraus, weiss auch Andreas Müller, promovierter Jurist und stellvertretender Generalsekretär der Direktion der Justiz und des Innern, dass eine staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften ein langwieriger Prozess ist. Er sagte: «Man muss sich erst kennenlernen und fragen: Wer bist du? Und: Warum bist du so anders?»

«Heute ist Anerkennung nicht mehr das zielführendste Instrument.»

Dem Thema staatliche Anerkennung steht der Jurist kritisch gegenüber. «Das Instrument der Anerkennung war in früheren Zeiten ein gutes Instrument für eine homogen zusammen gesetzte Gesellschaft. Heute ist das nicht mehr das zielführendste Instrument», sagte Müller.

Prinzip der kleinen Schritte

Er verwies dabei vor allem auf die Debatte um die staatliche Anerkennung der Muslime. Für die bisher anerkannten Glaubensgemeinschaften habe sich diese Methode bisher bewährt, so Andreas Müller. Für die nicht Anerkannten suche man heute nach neuen Wegen. «Das tun wir mit konkreten Projekten wie etwa der muslimischen Seelsorge», beschrieb er ein Beispiel. Verfolgt werde das Prinzip der kleinen Schritte.

Andreas Müller erinnerte an das SP-Positionspapier zur Integration (2007), in dem die Aussage zu finden sei, dass es nicht die Aufgabe eines freiheitlich verfassten Staates sei, Debatten über Leitkulturen und christliche Werte zu führen: «Es ist jedoch die Sache einer Zivilgesellschaft, hier das Heft in die Hand zu nehmen», betonte Müller.

«Religionsgemeinschaften sind ein Korrektiv  in der Gesellschaft.»

Religionsgemeinschaften sind für den Juristen klarer Bestandteil der Zivilgesellschaft. Er zitierte hier auch den Zürcher Regierungsrat, der festhielt, dass Glaubensgemeinschaften eine essentielle Rolle zukomme. «Durch ihre Diskussionsbeiträge sind sie ein unverzichtbares Korrektiv in der Gesellschaft», sagte Andreas Müller.

Prophetisches Wächteramt

Der Staat müsse sich, so Andreas Müller, auf eine immer pluralistischere und säkularere Gesellschaft einstellen. Dabei komme in jüngster Zeit jedoch immer mehr die Frage hoch, ob es noch erwünscht sei, dass Religionsgemeinschaften eine Gesellschaft tatsächlich prägten.

Für Verena Mühlethaler, Pfarrerin an der Citykirche Offener St. Jakob, stellt sich diese Frage nicht. Sie betonte: «Wenn man den christlichen Glauben wirklich leben will, dann muss man sich auch sozialpolitisch engagieren. Und man kann das nicht in seiner privaten Kammer zelebrieren.» Jesus habe seinen Glauben im öffentlichen Raum gelebt und gepredigt. Er habe öffentlich Hungernde, Arme und Entrechtete in seine Gemeinschaft integriert.

Kirche als gesellschaftlicher Brennpunkt

Die Pfarrerin erzählte in diesem Kontext von ihren Anfängen am «Offenen St. Jakob». Sie habe die Kirche schon bald als gesellschaftlichen Brennpunkt erlebt. Vor allem, als Aktivisten der «Occupy-Bewegung» vor der Kirche ihre Zelte aufschlugen.

Diese politische Aktion habe hohe Wellen geschlagen. Verena Mühlethaler: «Ich erhielt über einhundert Mails. Die meisten schrieben mir: ‹Genau so muss Kirche sein!› Andere freuten sich: ‹Endlich nimmt jemand das prophetische Wächteramt wieder ernst.›» Die reformierte Pfarrerin erinnerte sich auch an kritische Stimmen die forderten, die Kirche solle Träumern und Arbeitsverweigerern keine Plattform bieten.

Kleine Bewegung mit Sprengkraft

Auch Mühlethaler, gebürtige Deutsche, weiss um den Mitgliederschwund in der Kirche. Sie mahnte die Kirchen jedoch mit den Worten: «Nur weil wir jetzt kleiner werden, müssen wir uns davor hüten, allein unserem Kerngeschäft mit Gottesdiensten, Religionsunterricht und Seelsorge nachzugehen. Wir müssen uns nach wie vor das Reich Gottes vor Auge halten und uns weiterhin für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einsetzen.»

«Die Bibel ist eine Quelle an aktuellen Slogans und Parolen.»

Jesus und die Gemeinschaft um ihn sei damals schliesslich auch nur ein kleiner Teil in einem riesigen Reich gewesen, «und dennoch konnten sie eine grosse Sprengkraft entwickeln.»

Jacqueline Fehr schlug in ihren Redebeiträgen in dieselbe Kerbe. Religionsgemeinschaften bieten ihrer Ansicht nach in einer offenen Gesellschaft, die immer heterogener werde, wichtige Orientierungshilfen. Die SP-Politikerin ist zudem überzeugt: «Die Bibel ist eine unglaubliche Quelle an in dieser Zeit aktuellen Slogans und Parolen.»


«Verhältnis von Kirche und Politik muss neu und vertieft diskutiert werden»

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