«Ich habe Routine darin, mein Anders-Sein zu erklären»

Zürich, 3.6.18 (kath.ch) Sie ist eine der bekanntesten Stimmen des interreligiösen Dialogs in der Schweiz: Die Muslimin und Islamwissenschaftlerin Rifa’at Lenzin ging Ende Mai in Pension. Im Gespräch mit kath.ch erzählt sie davon, wie sie ihren eigenen Glauben praktiziert und wo im interreligiösen Dialog Fingerspitzengefühl gefragt ist.

Sylvia Stam

Ihr Gesicht ist bekannt: Langes schwarzes Haar, in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf hochgesteckt;  grüne, schwarz umrandete Augen. Es ist eines jener Gesichter, das den interreligiösen Dialog in der Schweiz massgeblich mitgeprägt hat. Rifa’at Lenzin, Muslimin und Islamwissenschaftlerin, hat in ihrer vielfältigen Lehrtätigkeit (siehe Kasten) zudem immer wieder aufgezeigt, wie vielfältig die Muslime sind, die in der Schweiz leben.

Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden

«Mir war es wichtig, dass angehende Sozialarbeiterinnen und -arbeiter lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden», so Lenzin. «Was ist beim Tagesablauf eines gläubigen Muslim wichtig? Worauf gilt es beim Ramadan zu achten?», nennt sie einige Beispiele. Aber auch Fragen dazu, wie Schweizer Muslime organisiert sind, wie ihre Familien strukturiert sind, welche Prioritäten in der Kindererziehung gesetzt werden und dass eben längst nicht alle praktizierende Muslime sind.

«Nicht alles ist islamisch bedingt.»

Schon die Beispiele zeigen, dass es sich dabei oft um Werte handelt, die weniger mit der Religion als mit dem kulturellen Hintergrund muslimischer Migrantinnen und Migranten zu tun haben. Diese Unterscheidung zu machen, ist eines der Hauptanliegen Lenzins: «Wenn die Studierenden mitnehmen, dass nicht alles islamisch bedingt ist, habe ich viel erreicht», sagt sie lachend.

In der Debatte um einen verweigerten Handschlag werde beispielsweise religiös argumentiert. «Solche Einzelfälle gibt es und sie geben zu reden. Gleichzeitig muss man sich die Frage stellen, wie relevant solche Fälle sind und ob sie den Schulalltag und den Unterricht wirklich stören.» Entsprechend müsse man einen dem Einzelfall entsprechenden Umgang finden, um nicht mit Kanonen auf Spatzen zu schiessen.

«Ich halte mich an die Vorschriften, soweit es mir möglich ist.»

Lenzin scheut sich nicht, in solchen Debatten Stellung zu beziehen. Die gläubige Muslimin pflegt selber einen pragmatischen Umgang mit ihrer Religion. «Ich halte mich an die Vorschriften, soweit es mir möglich ist», sagt sie schlicht. «Man kann den Islam hier leben», ist sie überzeugt, räumt aber ein, dass es dazu eine gewisse Offenheit und Kompromissbereitschaft brauche. Gebete kann man auch abends nachholen.

Ein Kopftuch trägt sie nur, wenn sie es angebracht findet, zum Beispiel in der Moschee, «aus Respekt dem Ort und den Gläubigen gegenüber». An hohen muslimischen Feiertagen habe sie jeweils frei genommen und am Tag danach im Geschäft Süssigkeiten mitgebracht. «Ich habe nie einen Hehl aus meiner religiösen Zugehörigkeit gemacht, habe sie aber auch nicht auf dem Tablett vor mir hergetragen», fasst sie ihre Haltung zusammen.

Muslimin und Islamwissenschaftlerin

Lenzin war ursprünglich bei der Swissair Group im Bereich Human Ressources Management tätig. Wegen ihres Hintergrunds konnte sie ihr Wissen über Religion und Kulturen auch firmenintern einzusetzen, beispielsweise bei der Aus- und Weiterbildung von Flight Attendants. Seit zehn Jahren ist sie Fachleiterin Islam beim Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID). Das Zürcher Lehrhaus, so der frühere Name des ZIID, sei schweizweit die erste und lange Zeit die einzige Institution gewesen, wo eine muslimische Fachperson gleichberechtigt mit einer christlichen und einer jüdischen Fachperson angestellt war, die im Bereich der Theologie zusammenarbeiteten. Aufgrund der speziellen Anforderungen sei es vielleicht nicht ganz einfach, eine Nachfolge für sie zu finden. Islamwissenschaftler zu sein allein genüge nicht.

Lenzin ist auch freischaffende Dozentin an verschiedenen Fach- und Hochschulen, sie engagiert sich ausserdem in diversen interreligiösen Gremien. Warum dieses eindrückliche Engagement im interreligiösen Dialog? Ihre Antwort ist so einfach wie überraschend: «Weil ich es kann», entgegnet sie ohne Zögern.

«Ich kann die Irritation beim Gegenüber einschätzen.»

Die Tochter einer pakistanischen Mutter und eines Schweizer Vaters wuchs in Bern auf. Sie weiss aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, als Muslimin in einem christlich geprägten Umfeld zu leben. «Ich habe eine gewisse Routine darin, das Anders-Sein zu erklären. Ich kann Irritation beim Gegenüber einschätzen und ansprechen.» Aufgrund dieser Erfahrungen könne sie umgekehrt auch Muslimen gut erklären, wie die Schweizer Gesellschaft funktioniere, insbesondere auch in religiöser Hinsicht.

Sie selbst interessiert am interreligiösen Dialog vor allem die Ebene der Reflexion, also etwa die Frage des Verhältnisses Gott-Mensch für die Gegenwart. Zurückhaltend ist sie bei interreligiösen Feiern. Damit diese gelingen, sei es wichtig, auch die Unterschiede in den einzelnen Religionen anzuerkennen. «Einen Segen zum Abschluss zu sprechen mag für Christen üblich und angebracht sein, für Muslime jedoch nicht.  Ich kann keinen Segen sprechen, höchstens um Segen bitten», erklärt sie. Hier sei es wichtig, niemanden zu vereinnahmen.

Gläubige sind oft keine Fachpersonen

Weil interreligiöse Feiern nicht selten von Pfarrpersonen ausgingen, werde manchmal vergessen, dass «Musliminnen und Muslime, die als Vertreter ihrer Religion mitmachen, meist keine Fachpersonen für ihre Religion sind.» Sie wissen oft nicht, was von ihnen erwartet wird und sind überfordert. Es braucht unter Umständen viel Zeit und Geduld, ein Vertrauen aufzubauen, damit auch negative Gefühle artikuliert werden können.

Rifa’at Lenzin bleibt trotz ihrer vielfältigen Engagements nüchtern hinsichtlich der Wirkung des interreligiösen Dialogs. «Die Frage ist, wie man die Leute damit erreichen kann. Wie die Erfahrung gezeigt hat, bleibt die Stosskraft in die Gesellschaft eher gering.» Als Grund dafür sieht sie eine gewisse Sprachlosigkeit der zunehmend säkularer werdenden Gesellschaft im Bereich Religion. Religiöse Themen sind ihrer Meinung nach nicht obsolet geworden. «Aber es bräuchte eine Übersetzung der Inhalte in eine für alle verständliche Sprache.»

«Nicht mehr zu jeder Frage Stellung nehmen müssen.»

Vielleicht wird sie auch deshalb ihre Lehrtätigkeit beim ZIID vorderhand noch weiterführen, bis die Nachfolge geregelt ist. Dennoch freut sie sich darauf, bald mehr Zeit zu haben. Zeit, um die Prioritäten anders zu setzen und besser auswählen zu können, wo sie sich engagiert. Zeit etwa für Publikationen und Themen, die schon lange in der Pipeline sind. «Und», sagt sie mit einer gewissen Erleichterung, «ich möchte auch nicht mehr zu jeder Frage Stellung nehmen müssen.»

Rifa’at Lenzin zu Kardinal Koch: Schweiz ist christlich geprägt

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