Kein Grund, nicht weitere religiöse Minderheiten zu integrieren

Bern, 18.10.17 (kath.ch) Die grüne Aargauer Politikerin Irène Kälin, die vor kurzem in den Nationalrat nachgerückt ist, ist für die öffentlich-rechtliche Anerkennung von muslimischen Gemeinschaften. Weshalb und wie es um solche Anerkennungen steht, erklärt sie im Gespräch mit kath.ch. Die Islamwissenschafterin schreibt ihre Masterarbeit zum Thema «Anerkennung anderer Religionsgemeinschaften» und diskutiert im Podium der Tagung «Der Islam als öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaft in der Schweiz?» vom 20. Oktober in Bern mit.

Georges Scherrer

In welchen Kantonen sind Vorstösse für die Anerkennung von muslimischen Gesellschaften unterwegs?

Irène Kälin: In vielen Kantonen haben progressive Kräfte versucht, das Anerkennungsrecht ihres Kantons so zu ändern, dass es grundsätzlich offen ist für weitere Religionsgemeinschaften. Dies ist heute in der Mehrheit der Kantone umgesetzt. Im Kanton Basel-Stadt wurden 2012 erstmals in der Schweiz nichtchristliche beziehungsweise nichtjüdische Gemeinschaften anerkannt, nämlich zwei alevitische Gemeinschaften. Im Kanton Waadt scheint die muslimische Gemeinschaft kurz vor der Einreichung eines Gesuchs um Anerkennung zu stehen.

Welche Arten von muslimischen Gemeinschaften streben eine solche Anerkennung an: einzelne Vereine oder kantonale oder Schweizer Dachverbände?

Kälin: Das hängt vom kantonalen Anerkennungsrecht ab. Im Kanton Basel-Stadt ist mit der kleinen Anerkennung eine Form geschaffen worden, die es explizit auch einzelnen Verbänden möglich macht, um Anerkennung zu ersuchen. Im Kanton Waadt nehmen die Muslime nun einen anderen Weg und wollen sich als gesamtkantonale Gemeinschaft bewerben. National hingegen kann keine Anerkennung stattfinden, die Hoheit liegt bei den Kantonen.

National kann keine Anerkennung stattfinden, die Hoheit liegt bei den Kantonen.

Sind die Muslime unter sich einig genug, um – nach dem Modell der katholischen und reformierten Kantonalkirchen – eine Anerkennung zu erlangen, die verschiedene Gemeinschaften einbezieht?

Kälin: Die Muslime im Kanton Waadt machen genau das vor. Klar ist aber auch, dass die muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz sehr heterogen strukturiert sind und noch nicht in allen Kantonen so gut zusammenarbeiten wie in der Waadt.

Sind Konvertiten die treibende Kraft hinter diesen Anliegen?

Kälin: Das würde ich so nicht sagen. Allerdings spielt sicher eine Rolle, inwieweit die aktiven Personen in den muslimischen Gemeinschaften hier verwurzelt sind und unser herausforderndes System der direkten Demokratie kennen und verstehen.

Sicher spielt eine Rolle, inwieweit die aktiven Muslime unser System der direkten Demokratie verstehen.

Welche Bedingungen sollten muslimische Gemeinschaften erfüllen, damit eine Anerkennung überhaupt möglich ist?

Kälin: Die Anforderungen für eine Anerkennung, wie sie die meisten Kantone kennen, sind hoch gesteckt. Es wird ein hoher Grad an Professionalität verlangt, der mit Freiwilligenarbeit nur schwer zu erfüllen ist. Grundsätzlich begrüsse ich es, dass finanzielle Transparenz und Offenlegung der Mitgliederregister zu den Voraussetzungen für eine Anerkennung zählen. Es müsste aber darüber nachgedacht werden, ob man die muslimischen Gemeinschaften bei der Erfüllung dieser Anforderungen nicht finanziell unter die Arme greifen sollte.

In China müssen sich die Religionen an das «Drei-Selbst-Prinzip» halten: Selbstfinanzierung, Selbsterhalt und Selbstkontrolle. Auch in der Schweiz gibt es Vorstösse, die ein Verbot der Finanzierung von muslimischen Gemeinschaften durch das Ausland anstreben. Begeben wir uns diesbezüglich auf den chinesischen Weg?

Kälin: Das chinesische Verhältnis von Staat und Religion ist dem Schweizer Modell nicht vergleichbar. China anerkennt abschliessend nur fünf Religionen. Wir hingegen waren bisher ein liberales und offenes Land und ich hoffe sehr, dass wir diese Tradition fortschreiben.

Wir waren bisher ein offenes Land. Ich hoffe sehr, dass wir diese Tradition fortschreiben.

Will man die Finanzierung aus dem Ausland verbieten, muss man bereit sein, einen Staatsbeitrag zu leisten, um den Minderheiten beim Aufbau der geforderten Strukturen zu helfen, die Bedingung sind für eine gute Kooperation und Anerkennung.

Sie sprechen sich für die Anerkennung von muslimischen Gemeinschaften aus. Warum?

Kälin: Die Schweiz kennt seit dem Sonderbundskrieg ein einzigartiges Modell der Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, das uns zuerst den Frieden zwischen Katholiken und Protestanten gebracht und später zur Integration der jüdischen Gemeinschaften in der Schweiz beigetragen hat. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht auch weitere religiöse Minderheiten integrieren sollten. Wir leben in einer multikulturellen und multireligiösen Schweiz – dies soll sich auch in den Gesetzen und Institutionen wiederspiegeln.

Ich würde mich in einer Burka ebenso fremd fühlen wie in einem sehr kurzen Minirock.

Würden Sie eine Burka anziehen, um gegen ein Burkaverbot zu demonstrieren?

Kälin: Nein, ich persönlich würde mich in einer Burka ebenso fremd fühlen wie in einem sehr kurzen Minirock. Das ist das Gute an unserem Land: Ich darf mich kleiden, wie es mir gefällt und ich mich wohlfühle. Noch nie in der Geschichte der Initiativen wurde in der Schweiz auf nationaler Ebene ein Verbot angedacht, das sich gegen eine Handvoll Personen richtete. Das ist nicht nur jenseits jeder Verhältnismässigkeit, sondern kann unmöglich der Auftrag der Politik sein. Wenn die Politik Probleme erfindet, statt bestehende Probleme zu lösen, dann verkennt sie ihre Aufgabe diametral.

«Der Islam braucht eine Theologie des Einbezugs anderer Religionen»

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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