Daniel Pittet: «Der Vergewaltiger ist nach wie vor Priester»

Freiburg i.Ü., 14.2.17 (kath.ch) Während vier Jahren wurde der Freiburger Daniel Pittet als Ministrant von einem Priester vergewaltigt. Der heute 58-jährige Familienvater hat darüber ein Buch geschrieben. Er beschreibt gegenüber cath.ch den langen Weg vom Missbrauchsopfer zum Missbrauchsbuch.

Maurice Page

«Am 15. August 1971, im Alter von zwölf Jahren, habe ich dem Priester verziehen, der mich vergewaltigte, dies noch ehe ich aus seinen Fängen weg war», sagt Daniel Pittet im Gespräch mit cath.ch. «Es war die Verzeihung durch ein Kind, sicher. Aber an diesem Tag hörte ich, wie er über die Mutter Gottes predigte. Die Leute trockneten ihre Tränen mit Taschentüchern. Ich wusste, dass ich von Pater Joël Allaz nach der Messe vergewaltigt werden sollte. Das war fast wie eine ‘Liturgie’. Ich sagte mir aber: ‘Er ist Priester und was er sagt, ist richtig. Es ist ein anderer Mensch in ihm, ein Ekel, ein Schwein. Ich habe meine Rechnung gemacht. Ich verzieh ihm’.»

Das Gespräch findet am Küchentisch statt. Der ehemalige Ministrant in der Kathedrale Freiburg erinnert sich weiter: «Ich habe zur Mutter Gottes und zur heiligen Theresia vom Kinde Jesus (Thérèse von Lisieux, die Red.) gebetet, damit sie mich von diesem Mann wegnehmen. Ich habe Bäche geweint, Badewannen gefüllt. Es dauerte aber dann doch noch einige Zeit, bis ich zu den Paulus-Schwestern versetzt wurde, wo meine Grosstante lebte, die beschloss, dass ich nicht mehr zu diesem Pater Joël gehen muss.»

«Ich bleibe ein zerbrechlicher Mann»

Eigentlich möchte Pittet gar nicht auf die Vergangenheit zurückkommen, «weil ich auf dieser aufgebaut wurde. Wer wäre ich heute, wenn ich das nicht erlebt hätte? Ich bin sicher, ich wäre nicht besser. Ich habe wahnsinnig gelitten. Ich habe darum die Bescheidenheit gelernt. Die Begeisterung, die ich als Kind hatte, habe ich nach wie vor. Ich habe eine Familie gegründet. Einen besseren Weg hätte ich nicht gefunden, auch wenn ich heute psychisch und physisch ziemlich lädiert bin. Ich bleibe ein zerbrechlicher Mann, ich weiss aber, dass das, was ich sage, richtig ist. Ich weiss auch, dass gewisse Leute in der Kirche entsetzt sein werden. Man muss aber reinen Tisch machen.»

Man muss aber reinen Tisch machen

Pittet stammt aus einer zerrütteten Familie. Der Vater verliess diese, als der Junge vier Jahre alt war. «Als ich meiner Grossmutter und meiner Mutter verkündete, dass ich zu einem Kapuziner im nahen Kloster gehe, waren sie sehr stolz. Sie waren froh zu sehen, dass er mich holte und wieder zurückbrachte. Ich habe nie gewagt, ihnen etwas zu sagen. Meine Mutter hatte den Pater aufgefordert, mir Sexualkundeunterricht zu geben.»

«Solche Fakten machen eine Familie kaputt»

Der Priester vergewaltigte den Jungen in den Jahren 1968 bis 1972 regelmässig. «Das schönste Foto, das es von mir als Kind gibt, stammt von Pater Joël. Er hat es in ihrer Zeitschrift ‘Foyers’ veröffentlicht und einen Text hinzugestellt, der voller zweideutiger Anspielungen war. In der Schule haben die Lehrer gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie führten dies aber auf den Tod meiner Grossmutter und die Probleme in der Familie nach dem Weggang meines Vaters zurück. Ich war auch bei einem Psychiater, der aber nichts entdeckte oder nichts sagte. Er hat mich nie auf sexuelle Dinge angesprochen. Entweder hat er schlecht gearbeitet oder dann ging er davon aus, dass ein Richter mir nie geglaubt hätte. Solche Fakten machen eine Familie kaputt. Also wagt niemand, davon zu reden.»

Dorthin nahm er ‘schwierige’ Jungs mit

«Dieser ist für mich»

Der Kapuziner Joël Allaz war eine in Freiburg hoch geehrte Person. «Einer der Brüder wurde Zeuge einer Vergewaltigung und forderte den Pater auf, mich in Ruhe zu lassen. Mich forderte er auf, nicht mehr zu kommen. Pater Joël kanzelte ihn aber mit den Worten ‘Halt die Schnauze’ ab. Jener war nur Bruder und getraute sich vermutlich nicht, weiter zu intervenieren.»

«Im ‘professinellen’ Bereich war er gut, sogar sehr gut. Als die Sache publik wurde, hatte ich viele Probleme mit Leute, die ihn kannten. Im Orden genoss er viel Autonomie und musste quasi niemandem Rechenschaft ablegen, sowohl was die Seelsorge betraf wie auch die Finanzen. In La Roche (in den Freiburger Voralpen, die Red.) mietete er ein Chalet von Ordensfrauen. Dorthin nahm er ‘schwierige’ Jungs mit. Er wusste ganz genau, wie er Kinder, die litten, ausmachen konnte und von denen er dachte: Dieser ist für mich.»

Glückliche Jahre in Einsiedeln

Drei Jahre, nachdem Daniel Pittet vom Zugriff des Priesters befreit war, verschwand dieser aus seinem Gedächtnis. Der junge Mann ging nach Einsiedeln, wo er in der Abtei «wie in einem Kokon beschützt wurde». Rückblickend bezeichnete Pittet diese Zeit «als vier Jahre des Glücks für meinen Wiederaufbau». Er schätzte das geistliche Leben und die Gottesdienste. Die Vergangenheit war aus dem Bewusstsein verschwunden. «Pater Joël trug das Gewand der Kapuziner, ich jenes der Benediktiner. Ich war mir nie bewusst, dass das das Gleiche ist.»

Ich wollte aber, dass der Kapuziner von Kindern lässt

Als Novize arbeitete Pittet in einem Regionalspital. Als er 22 Jahre alt war, starb eine Frau, die einen Verkehrsunfall erlitten hatte, in seinen Armen. Pittet erlitt eine schwere Hirnhautentzündung. Er ging zurück ins zivile Leben und verabschiedet sich von seiner Ordens-Laufbahn.

Glaube oder Nicht-Glaube?

«Ich musste mich entscheiden, ob ich den Glauben bewahren will oder nicht. Ich folgte einem Rat von Kardinal Charles Journet, bei dem ich Messdiener gewesen war: Wenn du leidest, dann geh neun Mal nach Bourguillon (ein Marienwallfahrtsort bei Freiburg, die Red.). Beim neunten Mal traf ich in der Kapelle auf ein Mädchen, das vor sich hin weinte. Ich habe sie der Mutter Gottes anvertraut und mich für den Glauben entschieden.»

In Freiburg trat Pittet der Gebetsbewegung des Gebetsapostolats bei und wurde ihr Präsident. Unter seiner Leitung entstanden in Freiburg die katholische Treffen «Beten und Zeugnis geben», die sich vor allem an die kirchliche Jugend richten. In diesem Rahmen begegnete er weiteren Missbrauchsopfern. 1989 stiess er auf ein Opfer von Pater Joël. «Das war wie ein Aufwachen. Ich verfiel in Trance. Meine ganze Geschichte kam wieder an die Oberfläche.»

Wie eine heisse Kartoffel  zurückgegeben

Pittet wollte es nicht mehr schlucken und nahm Kontakt mit dem Offizial (Richter) des Diözesangerichts des Bistums Lausanne-Genf-Freiburg, dem späteren Vatikandiplomaten und Nuntius in Deutschland, Jean-Claude Périsset, auf. Dieser schenkte ihm Glauben. Er beorderte den Kapuziner zu sich. Joël Allaz gestand die Taten. «Zu jener Zeit war ich aber der einzige Kläger.» Er erhielt ein Papier, das den Tatbestand bestätigte. «Ich wollte aber, dass der Kapuziner von Kindern lässt». Dieser wurde nach Frankreich versetzt. «Man sagte mir, er werde sich behandeln lassen und ich solle mich nicht weiter um die Sache kümmern. Was ich auch tat.»

Erste Kontakte zu den Medien

Die Sache ruhte bis 2002, als Daniel Pittet entdeckte, dass der Ordensmann im französischen Grenoble weiterhin «tätig» war. «Das Bistum hat in der Tat Pater Joël wie eine heisse Kartoffel den Kapuzinern zurückgegeben, und der Provinzial hat ihn anderswohin geschickt.»

Die Medien wurden auf die Angelegenheit aufmerksam. Ein befreundeter Journalist kontaktierte Daniel Pittet und fragte, ob er etwas wisse. «Ich weiss nicht so recht, aber es gibt mich.» Der Gang in die Medien entlastete das Opfer, er gab anonym Auskunft. Es gab aber auch Leute, die ihm andeuten, er solle den Mund halten. Das führte ihn in eine Depression. Er wurde mehrere Monate krank geschrieben.

Begegnung mit Franziskus

Der bekannte französische Obdachlosen-Pfarrer und langjährige Freund, Guy Gilbert, riet ihm, ein Buch zu schreiben, und vemittelte den Kontakt zu seinem Verlag «Philippe Rey». Mit Hilfe der Freiburger Autorin Micheline Repond kam das Buch zustande. Den letzten Anstoss zur Veröffentlichung gab Papst Franziskus. Pittet traf in der Entstehungszeit seines Buches «Lieben ist alles geben» den Papst. Dieser habe ihn gefragt, woher seine Begeisterung stamme. Während des Gesprächs kam es zur Aussage: «Ich wurde während vier Jahren von einem Priester vergewaltigt.» – «Das ist ausserordentlich», habe der Papst geantwortet, «indem er mich in die Arme nahm».

Franziskus wollte mehr wissen und fragte, ob der Priester noch lebe? «Ja.» Der Papst forderte ihn auf, in einem Buch Zeugnis abzulegen. Pittet versprach, eine italienische Übersetzung des bereits bestehenden Manuskripts nach Rom zu bringen. «Ich habe ihn gebeten, ein Vorwort zu schreiben. Er hat mir nicht klar geantwortet, versprach aber, dass wir uns wieder begegnen würden.» Der Papst schrieb dieses Vorwort.

Als ich ihn sah, tat es mir weh

Opfer fordert Täter heraus

Pittet erwog auch, dass sich sein «Peiniger» im Buch äussern konnte. Ihm wollte er sagen: «Dank dir war ich in der Scheisse. Du bist es auch. Du sollst über dein Leiden reden können.» Der Westschweizer Bischof Charles Morerod suchte den Priester auf. Im Nachwort zum Buch berichtet der Bischof über die Begegnung.

Pittet fährt fort: «Als ich die Geschichte (des Priesters, die Red.) las, sagte ich mir: Das ist fürchterlich. Ich hatte noch mehr Mitleid mit ihm.» Zwischen den beiden kam es im Kloster doch noch zu einer Begegnung. «Als ich ihn sah, tat es mir weh, denn es bestärkte mich in dem, was ich bereits seit vierzig Jahren dachte: Es handelte sich um einen perversen, kranken Pädophilen.» Er sprach als Egoist nur von sich und seinen Leiden. Für die Opfer hatte er kein Wort übrig.

Es braucht ein Vorwort des Papstes, damit er vom Priesteramt ausgeschlossen wird

Er zeigte sich überzeugt, dass er in der Hölle enden werde. «Ich habe ihm geantwortet: Du bist nicht der Einzige, der schreckliche Dinge begangen hat. Wenn du beichtest und der Priester dir verzeiht, werden wir uns im Himmel wieder treffen. Es war, wie wenn ich ihm einen ‘Trick’ verraten hätte, um in den Himmel zu kommen. Ich bin froh, dass ich ihm das sagen konnte.»

Offene Fragen

Daniel Pittet zeigt sich heute erfreut darüber, dass er von guten Personen, seiner Frau, einem nahen Freund und auch von Priestern und Ordensleuten getragen wird. Er könne heute «vollkommen frei» hinter dem Buch stehen.

Das Bistum nehme heute die Situation sehr ernst, müsse aber noch mehr auf die Opfer zugehen, die ihn als «Fahnenträger» sehen. Noch werde der Missbrauch von Kindern nicht allerorts ernst genommen. So habe ihm der Papst gesagt: «Pädophile in Italien? Das gibt es nicht.» Pittet hofft, dass sein Buch weitere Menschen auf die Problematik aufmerksam macht.

Einen weiteren Wermutstropfen gibt es. Die Kapuziner haben ihn Joël Allaz aller Ämter und seelsorgerlichen Aufgaben entbunden. Er wurde aber nicht vom Orden ausgeschlossen. Pittet: «Es braucht vermutlich ein Vorwort des Papstes, damit er vom Priesteramt ausgeschlossen wird. Wenn er aber nicht im Kloster wäre, wäre er seiner Natur gemäss wieder tätig geworden oder hätte sich umgebracht.» (cath.ch / Übersetzung: Georges Scherrer)

Das Buch «Mon Père, je vous pardonne» von Daniel Pittet ist beim Französischen Verlag «Edition Philippe Rey» erschienen. Auf Anfrage erklärte der Verlag, man sei daran zu überprüfen, ob es eine deutschsprachige Übersetzung geben wird, man «gehe aber davon aus».

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