Identität – Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts?

(Bild: topoi.org)

 

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Dietrich Bonhoeffer

 

Quelle: Widerstand und Ergebung, Gütersloh 151994, 187.

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Editorial

Das Glück der Begegnung
 

Was hat wohl Jesus glücklich gemacht? Er investierte einen Grossteil seiner Zeit und Kraft in die Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen. Seine Achtsamkeit in Alltagssituationen ermöglichte viele intensive Begegnungen, jede einzelne davon reich an Emotion, Liebe, Zuwendung und Herz. Ich schaue mich um und merke, wie viele Menschen sich ein Mehr an Liebe, Verständnis, Nähe, Geborgenheit und Freude wünschen. Ein zu hohes Lebenstempo und Leistungsdruck und nicht zuletzt die digitalen Medien laugen sie aus und entfremden sie voneinander. Es fehlt uns an Zeit und Kraft, um Freundschaften und Beziehungen zu pflegen. Burnout, Erschöpfung und Depression sind die Krankheiten unserer Zeit und Kultur. Gottes Welt ist bunt. Farbe ist Leben, die uns umrahmt und durchdringt bei jedem unserer Atemzüge. Liebe wirkt darin und bricht sich in allen erdenklichen Farbmustern. Ihre Prismen sind unsere Mitmenschen, egal welcher Hautfarbe, Herkunft oder Überzeugung. Und hier mit dem Beispiel Jesu mutig voranzugehen, kann nur Glück verheissen: Das echte Leben ist Begegnung. Die Blickrichtung Jesu ist losgelöst vom Streben nach Mehr und vom überzogenen Drehen um mich Selbst. In der Begegnung mit meinen Mitmenschen begegne ich schliesslich dem Göttlichen, komme zur Ruhe und finde heilende Inspiration. Inspiration, die mir ein hohes Mass an Lebensqualität, Zufriedenheit und Glück bringt.
 

Brigitte Burri