Weihbischof Alain de Raemy: «In der Schweiz lassen wir uns von einem anscheinend weitverbreiteten Wohlstand irreführen»

Weihbischof Alain de Raemy feiert heute Abend mit Mitgliedern der grössten Tessiner Gewerkschaft OCST einen Gottesdienst in Lugano. Der Einsatz für ein humanes Arbeitsklima «fängt bei jedem einzelnen Christen an», sagt de Raemy. «Es soll mir nicht nur um meinen Lohn gehen.»

Barbara Ludwig

Warum ist es Ihnen wichtig, mit Vertretern dieser Gewerkschaft einen Gottesdienst feiern?

Weihbischof Alain de Raemy*: Weil es keinen besseren Verteidiger der Menschenrechte gibt als Christus selber. Er ist ja für unsere Befreiung aus Zwang und Unrecht, aber auch Schuld und Egoismus, gestorben und auferstanden. Das erleben wir ja direkt bei jeder Eucharistie.

«Ich will erfahren, wie die Lage in der Arbeitswelt heute ist.»

Jesus war auch Sohn eines Handwerkers und hat selber als Schreiner sehr wahrscheinlich mindestens 15 Jahre lang gearbeitet. Mit und in ihm kann und muss man die Rechte aller vertreten und verteidigen. Aber genau wie er gelebt hat und gestorben ist: ohne Hass, nur aus Liebe und somit mit dem besten Sinn für Gerechtigkeit.

Welches Thema werden Sie in der Predigt aufgreifen?

De Raemy: Das weiss ich noch nicht. Ich werde mich von den Schriftauszügen der Tagesmesse leiten lassen, wie immer. Im Psalm wird es aber ganz klar heissen: «Die Schwachen hebt der Herr empor aus dem Staub. Er erhöht die Armen, die im Schmutze liegen.» Das passt doch perfekt.

Nach dem Gottesdienst gibt es eine Begegnung. Wie wollen Sie dort auf die Mitglieder der Gewerkschaft zugehen?

De Raemy: Ich lasse sie auf mich zugehen. Darum geht es ja, dass ich erfahre, wie die Lage in der Arbeitswelt heute ist und wie sie als Gewerkschaft in diesem Kontext handeln können.

«Wenn sich die Kirche um Menschen in schwierigen Situationen kümmert, kreist sie nicht um sich selber.»

Die Kirche kreist im Moment sehr um sich selber. Tut sie genug für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer?

De Raemy: Wenn sich die Kirche um Menschen in schwierigen Situationen kümmert, dann kreist sie sicher nicht um sich selber, sondern schaut genauer auf Christus hin. Ob sie genug für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern tut? Da würde ich sagen: Sie tut sicher schon weltweit sehr viel. Aber hier in der Schweiz lassen wir uns vielleicht allzu oft von einem anscheinend weitverbreiteten Wohlstand irreführen.

Die Arbeitswelt wird für viele Menschen – auch in der Schweiz – immer härter: Wie können die Kirche als Institution und die Gläubigen ein humanes Arbeitsklima fördern?

De Raemy: Das fängt bei jedem einzelnen Christen an. Dort wo ich bin und arbeite, dort muss ich als Christ auf alle und alles aufmerksam sein. Es soll mir nicht nur um meinen Lohn gehen… Siehe Matthäus 7,12 : «Alles, was ihr wollt, dass es euch die Leute tun, das tut auch ihr ihnen.» Aber ganz alleine kann ich meistens nicht genug erreichen. Eine Gewerkschaft wie die OCST im Tessin könnte überall behilflich sein. Damit meine ich aber nicht, das sonst nichts anderes getan wird.

Der Westschweizer Alain de Raemy (64) leitet das Bistum Lugano seit Oktober 2022 als Apostolischer Administrator. Er ist Weihbischof von Lausanne, Genf und Freiburg. Zudem ist Alain de Raemy Jugendbischof und Medienbischof für die West- und Südschweiz. Die Messe findet um 18 Uhr in der Herz Jesu-Basilika in Lugano statt. Das Interview wurde schriftlich geführt.


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