Imam Muris Begovic: Das Erdbeben in der Türkei als Prüfung verstehen

Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat den Menschen vor Ort enormes Leid gebracht. «Alles, was passiert, ist Wille Gottes», sagt der Imam und Seelsorger Muris Begovic (42). Gott schicke Erschwernisse – aber immer auch Erleichterung.

Jacqueline Straub

Wie geht es Ihnen, wenn Sie die Bilder in den vom Erdbeben betroffenen Regionen in der Türkei und Syrien sehen?

Muris Begovic*: Als ich am Morgen nach dem Erdbeben die ersten Bilder vom Katastrophengebiet gesehen habe, hat es mich innerlich zerrissen. Ich habe sehr mitgelitten mit den Menschen.

Was hat Ihnen geholfen?

Begovic: Ich musste etwas machen, also habe ich geschaut, welche Hilfsorganisationen es gibt – und habe gespendet. Aber auch das Gebet hat mir geholfen und in Gedanken bei den Betroffenen zu sein.

Erschüttern die Ereignisse Ihren Glauben an Gott?

Begovic: Nein. Als gläubiger Muslim bin ich überzeugt, dass alles, was passiert, der Wille Gottes ist. Zu meinem Glauben gehört auch, dass ich dazu aufgerufen bin, meinen Mitmenschen in ihrer Not beizustehen. Das hat jetzt die höchste Priorität.

«Gott ist gut und von Ihm kommt Gutes.»

Es sind bereits über 20’000 Tote aus den Trümmern geborgen worden. Warum hat Gott das Erdbeben in der Türkei und Syrien zugelassen?

Begovic: Auch wenn ich es nicht nachvollziehen kann, warum das Erdbeben mit so vielen Toten geschehen musste, glaube ich, dass es als Gottes Wille passiert ist. Während Corona sind hunderttausende Menschen gestorben – auch mein Vater und mein Onkel. Ich verstehe das aus meiner menschlichen Perspektive nicht, aber ich vertraue darauf, dass Gott einen Plan hat. Gott ist gut und von Ihm kommt Gutes.

Wie geht der Koran mit der Frage nach dem Leid in der Welt um?

Begovic: Die Theodizee-Frage ist im Islam in zwei Sachverhalte unterteilt. Zum einen, was von Menschen verursacht ist. Etwa, wenn ich jemanden verletze oder beleidige und somit jemanden Leid zufüge. Oder Leid, das durch Naturkatastrophen verursacht wird. Darauf haben wir keinen Einfluss. Beides bewegt sich aber im Rahmen vom Willen Gottes. Auch Hiob findet sich im Koran und wird als Beispiel genannt, mit dem Leid in der Welt umzugehen.

Was schlägt der Koran vor, wie mit Leid umgegangen werden soll?

Begovic: Egal, was auf einen zukommt, soll man sich auf Gott verlassen. In der islamischen Lehre wird das als eine Prüfung verstanden. Gott prüft Menschen in grossen Ausmassen und schaut, wie wir handeln. Die Prüfung bringt das Positive und das Negative im Menschen zum Vorschein und dient uns zur eigenen Einschätzung. Es ist für uns eine Möglichkeit, uns zum Guten zu entscheiden.

«Mit einem theologischen Konzept wird sich die Situation nicht ändern.»

Was ist, wenn wir an Gott und seinem Plan zweifeln?

Begovic: Der Zweifel ist eine menschliche Eigenschaft. In Sure 2 im Koran fragt Abraham Gott, wie er Leben erschafft. Darauf fragt ihn Gott: «Glaubst du denn nicht?» Er antwortet: «Doch, ich glaube, aber ich möchte, dass sich mein Herz beruhigt.» Es wäre sicher nicht richtig die betroffenen Menschen in diesem Moment zu belehren. Der Schock, die Angst, das Erlebte, die Trauer, der Schmerz, all das muss zuerst verarbeitet werden. Mit einem theologischen Konzept wird sich die Situation nicht ändern.

Wie gehen Sie persönlich damit um?

Begovic: Ich nehme an, was kommt. Denn es ist Gottes Bestimmung für mich, auch wenn ich denke, dass es im ersten Moment schlecht ist. Ich bin davon überzeugt, dass Gott gut ist und das Gute auch zu mir kommen wird.

Bedeutet das, dass der Mensch eine Marionette Gottes ist?

Begovic: Gott ist nicht willkürlich. Er ist der Barmherzige. Auch wenn etwas Schlimmes passiert in der Welt, ist die Barmherzigkeit Gottes ganz nah. Wir Menschen haben einfach eine andere Perspektive auf die Geschehnisse.

«Gott schickt uns Prüfungen und Erschwernisse.»

Wo ist Gott im Leid?

Begovic: Gott ist immer da. Gott schickt uns Prüfungen und Erschwernisse. Doch in der Sure 94 steht, dass diese immer auch mit Erleichterung kommen. Ich möchte ein Beispiel nennen: Wenn ich mir vorstelle, dass meine Mutter gestorben ist, zerreisst mich der Gedanke daran. In diesem Fall stelle ich mir eine Erschwernis vor, aber Gott hat die Erleichterung in dieser Vorstellung nicht mitgeschickt, weil die konkrete Erschwernis nicht eingetreten ist. Wem auf dieser Welt Schlimmes widerfährt, erhält von Gott auch die Erleichterung. Vielleicht können gerade wir ein Teil dieser Erleichterung für die Menschen in der Türkei und Syrien sein, die unsere Unterstützung brauchen.

*Muris Begovic (42) ist Imam, Seelsorger für Spitäler und andere öffentliche Institutionen, muslimischer Armeeseelsorger und Geschäftsführer der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich.


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