Goldenes Jubiläum in Zeiten der Konfrontation: «Russland führt einen heissen Krieg gegen die Ukraine»

Was treibt Putin an? Wer ist Patriarch Kyrill? Und was machen die Kirchen in der Ukraine? Gäbe es die Zeitschrift «Religion und Gesellschaft in Ost und West» nicht, müsste man sie erfinden. Der Ukraine-Krieg macht sie relevanter denn je. Am Wochenende feiert das Institut «G2W» Goldenes Jubiläum.

Wolfgang Holz

Von aussen sieht alles ganz unscheinbar aus. In einem schlichten Bauhaus-Bau an der Bederstrasse 76 in Zürich ist das Institut G2W eingemietet. Institutsleiter Stefan Kube empfängt einen freundlich an der Tür und führt durch die Redaktionsräume in der Wohnung im ersten Stock. Es gibt köstlichen selbstgebrühten Kaffee.

Auf knappem Raum wird Grosses geleistet

Auf knappem Raum leistet sein Team aus fünf Mitarbeitenden jeden Monat Erstaunliches – erscheint doch alle vier Wochen eine bis zu 32 Seiten umfassende Ausgabe von «Religion & Gesellschaft in Ost und West» (RGOW). Und das schon seit 50 Jahren.

«Ziel war es, über das kirchliche Leben in den sozialistischen Ländern zu informieren.»

Stefan Kube, Chefredaktor «Religion & Gesellschaft in Ost und West»

Im Juli 1972 wurde das Institut «G2W – Ökumenisches Forum» gegründet – damals noch unter der Bezeichnung «Glaube der 2. Welt». Anfang 1973 erschien die erste Ausgabe von «Glaube in der 2. Welt. Materialdienst», so der erste Titel der Zeitschrift.

«Ziel war es, über das kirchliche und religiöse Leben in den sozialistischen Ländern zu informieren und auf Verletzungen der Religionsfreiheit aufmerksam zu machen», sagt Stefan Kube. Der 44-Jährige ist Historiker und Theologe. Seit 2009 ist er Chefredaktor, seit 2012 leitet er das Institut.

Die Auflage von 1100 Abos habe sich die Jahre über einigermassen stabil gehalten, sagt Stefan Kube. Die Zeitschrift finanziert sich über katholische und reformierte Landeskirchen in der Deutschschweiz, evangelische Landeskirchen in Deutschland und Spenden.

Pfarrer Eugen Voss war Hauptinitiator

Massgeblicher Initiator des Projekts sei der reformierte Pfarrer Eugen Voss aus St. Moritz gewesen, sagt Stefan Kube. Dieser kam aus einer Russlandschweizerfamilie und hatte während einer Reise in die Sowjetunion 1963 die Kirchenschliessungskampagne unter Nikita Chruschtschow hautnah miterlebt.

«Bis heute hat die Zeitschrift viele Entwicklungen durchlaufen», sagt Kube. Geblieben sei, dass RGOW weiterhin monatlich Zeitdiagnosen zu aktuellen Ereignissen im östlichen Europa liefert. «Die Zeitschrift entstand zu Zeiten des Kalten Kriegs, heute führt Russland einen heissen Krieg gegen die Ukraine, der den Frieden und die Sicherheit in Europa grundlegend in Frage stellt», so der Chefredaktor zur aktuellen Situation.

«Es ist ein verheerendes Signal für die russisch-orthodoxe Kirche, dass Patriarch Kyrill I. den Angriffskrieg Putins in der Ukraine klar unterstützt.»

Stefan Kube, Institutsleiter G2W

Vor diesem Hintergrund nimmt die Redaktion in der Jubiläumsausgabe vor allem Russland, die Ukraine sowie die beiden Nachbarländer Belarus und Polen in den Blick. Auch die letzte Ausgabe war bereits dem Krieg in der Ukraine gewidmet.

«Es ist ein verheerendes Signal für die russisch-orthodoxe Kirche, dass Patriarch Kyrill I. den Angriffskrieg Putins in der Ukraine klar unterstützt und ihm dadurch eine religiöse Legitimation verleiht», sagt Stefan Kube. Kyrill sehe in der russischen Aggression einen Verteidigungskrieg gegen säkulare Werte aus dem Westen: «Eine groteske Wahrnehmung der Dinge, weil dadurch eine Opfer-Täter-Umkehr stattfindet.»

Dabei habe sich die russisch-orthodoxe Kirche in Russland nicht immer als derartig devoter Untertan von Staat und Zar verhalten wie jetzt unter Putin: «Auf dem Landeskonzil 1917 wurde offen über Reformen in der Kirche und deren gesellschaftliches Wirken diskutiert.»

Unter Gorbatschow Freiheit der Kirche erwacht

Eine Zukunft, die dann allerdings zunächst nicht mehr stattfand. Denn die sozialistische Oktoberrevolution und vor allem Stalin haben den Glauben jahrzehntelang gesellschaftlich und politisch unterdrückt.

1988/89 unter Gorbatschow sei die Freiheit der Kirche wieder erwacht. «In den 1990er-Jahren und danach entwickelten sich unterschiedliche Strömungen innerhalb der Kirche. Es gab Ansätze zum Aufbau einer kirchlichen Sozialarbeit, beispielsweise für Obdachlose und ehemalige Strafgefangene», skizziert Kube. Unter Putin und Kyrill I. sei die innerkirchliche Vielfalt zurückgebunden worden. Nun herrsche wieder die Zentralisierung.

«Die religiöse Situation in der Ukraine unterscheidet sich von derjenigen in Russland aufgrund ihres Pluralismus.»

Stefan Kube

Im Gegensatz zu Russland ist laut Stefan Kube die Kirchenlandschaft in der Ukraine in Bewegung. «Die religiöse Situation in der Ukraine unterscheidet sich von derjenigen in Russland aufgrund ihres Pluralismus», sagt er. Konkret äussert sich das in der Abspaltung der ukrainisch-orthodoxen Kirche vom Moskauer Patriarchat Ende Mai dieses Jahres: «Durch diese aktuelle Abspaltung von Moskau verliert die russisch-orthodoxe Kirche etwa ein Drittel ihrer Gläubigen.»

Krieg in der Ukraine wird noch länger dauern

Auch gibt es seit 2018 die Orthodoxe Kirche der Ukraine. Doch trotz Annäherungsprozessen sei eine baldige Vereinigung der beiden orthodoxen Kirchen in der Ukraine nicht wahrscheinlich.

Der Krieg gegen die Ukraine wird sich aus Sicht von Stefan Kube noch länger hinziehen. «Der Schlüssel für ein Ende des Krieges liegt in Moskau.» Es sei absolut legitim, dass die Ukraine ihr demokratisches System verteidige. Die Ukraine habe im Gegensatz zu Russland in den letzten drei Jahrzehnten eine demokratische Entwicklung durchlaufen, was sich auch an den Regierungswechseln ablesen lasse.

Da waren jene Zeiten von Glasnost und Perestrojka noch deutlich angenehmer. Kann man denn sagen, dass ohne Gorbatschow und ohne Papst Johannes Paul II. die friedliche Öffnung nach Westen und das Ende des Kalten Kriegs nicht möglich gewesen wären?

Stefan Kube sieht das Ganze nüchterner: «Es braucht sicherlich auch grosse Persönlichkeiten, um solche Prozesse anzustossen und mitzutragen». Letztlich sei aber das Ende des Kalten Kriegs und die Freiheit im Osteuropa als Ergebnis langjähriger Entwicklungen zu betrachten.

In Polen und Kroatien sind die Kirchen noch voll

Bleibt die Frage, ob die Kirchen in Osteuropa nach der politischen Befreiung auch nach wie vor viele Gläubige anziehen. In Westeuropa werden die Kirchen immer leerer, Gotteshäuser abgerissen und zweckentfremdet. Die zunehmende Säkularisierung droht die Kirchen in ein Minderheitenmodell zu verwandeln.

«Der Grad, sich zu einer Kirche zu bekennen, liegt in Osteuropa noch höher als in Westeuropa», versichert Kube. In Polen und Kroatien besuchten immer noch viele Gläubige die Gottesdienste. In Estland hingegen würde sich die Mehrheit der Gesellschaft als konfessionslos bezeichnen. Tschechien sei schon länger von einer auffallenden Säkularisierung geprägt. «Und selbst in Polen wird durch Missbrauchsskandale das Image der römisch-katholischen Kirche unter den Gläubigen zusehends zerrüttet. Unterm Strich nähern sich somit West- und Osteuropa auch hinsichtlich des Grads an Religiosität an.»

Am Samstag, 10. September, findet in Chur eine Jubiläumsveranstaltung zum 50-Jahr-Jubiläum statt. Auf dem Programm stehen ein Friedensgebet, an dem auch Bischof Joseph Bonnemain teilnimmt. Auch gibt es eine Ikonenausstellung und eine Podiumsdiskussion.


Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/goldenes-jubilaeum-in-zeiten-der-konfrontation-russland-fuehrt-einen-heissen-krieg-gegen-die-ukraine/