Brasilianischer Sex-Film gewinnt den Goldenen Leoparden

Simone ist jung, schwarz und bisexuell. Die Brasilianerin arbeitet als Pflichtverteidigerin und als Cam-Girl. «Regra 34» der Regisseurin Julia Murat ist der Gewinner-Film von Locarno. Er hält der sexualisierten und bigotten Gesellschaft Brasiliens den Spiegel vor. 

Sarah Stutte 

Die Geschichte dreht sich um Simone (Sol Miranda): eine junge, schwarze, bisexuelle Brasilianerin mit zwei sehr unterschiedlichen Jobs. Tagsüber lässt sie sich zur Pflichtverteidigerin ausbilden, um vor allem Frauen zu schützen, die in ihren Beziehungen physische oder psychische Gewalt erfahren haben. Nachts ist sie ein Cam-Girl, das gegen Geld sexuelle Handlungen vor der Kamera ausführt, um die Aufmerksamkeit der Männer zu erregen. 

Lust, Freiheit und Selbstschutz

Der Titel «Regra 34», «Regel 34» bezieht sich auf eine allgemein akzeptierte Internet-Regel. Diese besagt, dass im Internet von allen denkbaren Dingen eine pornografische oder sexualisierte Version existiert.

Julia Murat geht in ihrem dritten Spielfilm der Frage nach, wie sich Frauen im heutigen Brasilien zwischen Lust, Freiheit und Selbstschutz eine eigene Identität schaffen können. Das gelingt ihr mit einer sehr komplexen, dadurch aber spannenden Hauptfigur, die mutig ihre persönlichen Grenzen austestet – sich der damit einhergehenden Gefahren jedoch stets bewusst ist. 

Sadomasochismus erinnert an Sklaverei

Simone hat eine Mission. Sie will ihr Selbstverständnis im Internet behaupten und das dort vorherrschende Bild über schwarze Frauen dekolonisieren. Viele Darstellungen von schwarzem BDSM und Sadomasochismus würden mit Sklaverei assoziiert. Dies stehe im Zusammenhang mit den sozialen Schwierigkeiten, mit denen generell schwarze Menschen, Frauen und Minderheiten in Brasilien konfrontiert sind.

Statt einer einfachen Polemik bietet die Regisseurin Julia Murat einen Film, der gegen ideologische Schranken ankämpft, ohne sich mit einfachen Antworten zufrieden zu geben. Die Diskussionen zwischen den Jura-Studierenden sind ermutigend und brechen Binaritäten von schwarz/weiss oder männlich/weiblich auf. Es scheint, als ob eine junge brasilianische Generation nach Grauzonen sucht – innerhalb einer Umgebung, die sie oftmals gefangen hält. 

Ein feministischer Beitrag

Der Sex erscheint da als regelrechter Befreiungsschlag, als Spielwiese der Möglichkeiten. Simone ist in einer offenen Dreiecksbeziehung mit zwei ihrer Kommilitonen, einem Mann und einer Frau. 

Regisseurin Julia Murat trifft mutige Entscheidungen und spart explizite Szenen mit BDSM-Praktiken wie Atemnot und Würgen nicht aus. Diese Momente wirken jedoch nicht plakativ oder ausbeuterisch, sondern tragen einen feministischen Gedanken, weil Simone schlussendlich die Kontrolle über ihre Entscheidungen behält. 

Sexualisierte und bigotte Gesellschaft

Der Film endet, wie er beginnt – mit einer Frage. Das entlässt das Publikum mit eigenen Gedanken darüber, wie kompliziert sich die Suche nach dem eigenen Selbstverständnis gestaltet – vor allem für Frauen in einer gleichermassen sexualisierten wie bigotten Gesellschaft.


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