Tier-Theologe lobt Veganer-Ehepaar: «Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit»

Ein Veganer-Ehepaar hat einen Gottesdienst in Zürich gestürmt. Rainer Hagencord (61) ist Priester und Zoologe. Er lobt die Protest-Aktion und zitiert den Befreiungstheologen Leonardo Boff: «Die Industrienationen kreuzigen die Armen, das Klima und die Tiere.»

Raphael Rauch

Ein Veganer-Ehepaar stürmt einen Gottesdienst in Zürich. Was sagen Sie dazu?

Rainer Hagencord*: Ich finde die Aktion grossartig. Mir kommt spontan das Lied in den Sinn: «Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit.» Hier zeigt sich die prophetische Kraft des Christentums. Die bürgerliche Bequemlichkeit wird herausgefordert. Wir brauchen Weckrufe. 

Einen Gottesdienst zu stören kann aber auch religiöse Gefühle verletzen.

Hagencord: Ich war nicht dabei und möchte nicht über die Gottesdienstbesuchenden urteilen. Aber Störungen müssen in einem Gottesdienst Platz haben. Liturgie ist kein totes Ritual, sondern das Leben. Wir können nicht eines der grössten Probleme der Gegenwart ignorieren. Und das ist die Gewalt gegen Tiere.

«Wir können den Imperativ für eine Tierethik nicht ignorieren.»

Warum ist ein Gottesdienst dafür der richtige Ort?

Hagencord: Auch die grossen Propheten im Ersten und Zweiten Testament haben die Gewalt gegen Tiere kritisiert. Wir können den Imperativ für eine Tierethik nicht ignorieren. Papst Franziskus spricht in «Laudato si’» den Tieren einen Eigenwert zu. 

Was bedeutet das für einen Gottesdienst?

Hagencord: Wir können im Gottesdienst nicht über Erlösung und Vergebung sprechen, über Jesus von Nazareth nachdenken – uns aber in Selbstgefälligkeit wiegen und nichts an unserem Verhalten ändern. Für den israelischen Star-Historiker Yuval Harari ist die industrielle Tierhaltung eines der grössten Verbrechen der Menschheit. Der US-Autor Jonathan Safran Foer hat schon vor zehn Jahren gesagt: «Wir führen einen Krieg gegen die Tiere.» Haben wir unser Verhalten geändert? Nein.

Fangen wir bei Adam und Eva an: «Macht euch die Erde untertan.»

Hagencord: Papst Franziskus zeigt in «Laudato si’»: Hier gibt es ein riesiges Missverständnis. Silvia Schroer und Ottmar Keel haben schon länger gezeigt, dass es hier um Metaphern geht: um Attribute eines guten Hirten und eines guten Königs.

«In Mitteleuropa kämen wir als Veganerinnen und Veganer prima zurecht.»

Müssen wir jetzt alle Veganerinnen und Veganer werden?

Hagencord: Es gibt Kulturen, in denen der Anbau von Gemüse und Getreide eher problematisch ist. Hier wäre eine rein vegane Lebensform nicht möglich. In Mitteleuropa kämen wir als Veganerinnen und Veganer prima zurecht. Und auch in Indien gibt es Regionen, wo Menschen seit Generationen vegan leben und glücklich sind.

Mich macht ein Rindsfilet glücklich.

Hagencord: Von mir aus. Aber es gibt kein Grundrecht auf Fleisch. Fleischkonsum gehört nicht zum Menschsein. Und es gibt kein moralisch relevantes Argument für Fleischkonsum. «Es schmeckt mir halt» ist nicht moralisch relevant.

«Jesus hat die Schlachthöfe in Jerusalem kritisch gesehen.»

War Jesus veganer, wie die Zürcher Aktivisten behaupten?

Hagencord: Nein, dafür gibt es keine Hinweise. Aber er hat die Schlachthöfe in Jerusalem sicher kritisch gesehen. Das biblische Buch Levitikus führt auf, wer wann wie viele Tiere zu opfern hat. Wenn man diese Zahlen hochrechnet, müssen wir uns Jerusalem an bestimmten Festtagen als riesigen Schlachthof vorstellen. Die Tiere wurden ja in den Tempeln geopfert. Davon hat eine ganze religiöse Kaste gelebt. Jesus hat dagegen protestiert und uns daran erinnert, dass Gott Barmherzigkeit will und keine Opfer.

Die Protestaktion fand während einer Messe statt. 

Hagencord: Jede Eucharistiefeier erinnert an das letzte Abendmahl. Wir vergessen, dass Jesus kein Fleisch mehr gegessen hat, sondern Brot. Der Jude Jesus bricht mit der Tradition. Wir feiern deshalb Eucharistie mit Wein und Brot – und nicht mit Lammfleisch. 

Die Aktivistinnen und Aktivisten in Zürich argumentieren mit verschiedenen Bibel-Zitaten. Welche Bibelstelle ist für Sie persönlich zentral? 

Hagencord: Letztlich ist es der Satz: «Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!» Die Tiere sind das grösste Opfer. Wir nehmen dieses Opfer in Kauf, um unseren Lebensstil weiterzuführen. Der Befreiungstheologe Leonardo Boff hat schon vor Jahren gesagt: «Die Industrienationen kreuzigen die Armen, das Klima und die Tiere.»

Was fangen Sie mit der Metapher «Lamm Gottes» an?

Hagencord: Wenn wir das Lamm als sakramentale Gestalt wahrnehmen, also als ein Geschöpf, das Jesus repräsentiert, das die Sünden der Welt beseitigt: Muss dann nicht die Gewalt gegen alle aufhören? Also auch die Gewalt gegen alle Lämmer auf der Welt, gegen alle Tiere? Wenn wir die Geschichte Jesu und seine Hingabe ernst nehmen, haben wir kein Recht mehr, unschuldigen Tieren das Leben zu nehmen.

«Der Mensch sieht sich als Krone der Schöpfung und alles andere wird ihm egal.»

Wann haben sich Schöpfung und Mensch entfremdet?

Hagencord: Im Paradies war alles perfekt. Bei Paulus finden wir im Römerbrief den Hinweis, dass die ganze Schöpfung auf die Erlösung wartet. Doch dann ändert sich die Tradition: Plötzlich wird nur noch von der Erlösung des Menschen gesprochen, der menschlichen Seele und dem menschlichen Heil. Der Mensch sieht sich als Krone der Schöpfung und alles andere wird ihm egal.

In der Klima-Bewegung argumentieren viele pro Veganismus – wegen des CO2-Ausstosses. Ist das ethisch problematisch, weil der Mensch seine eigene Zukunft im Blick hat – und weniger die Tiere?

Hagencord: Ich bin froh, dass es die Klima-Bewegung gibt. Wer hier aber nur das Überleben der Menschheit im Blick hat, dupliziert den Anthropozentrismus, der ja erst zur Klima-Katastrophe geführt hat. Wir brauchen ein neues Denken, das die ganze Schöpfung in den Blick nimmt. Wir dürfen die Themen Artenschwund, Ausrottung der Tiere und Pflanzen nicht vergessen. Eine Theologie, die im Kern anthropozentrisch ist, ist mitverantwortlich für die Klimakatastrophe und die Ausrottung der Arten. «Laudato si’» wird viel zu wenig rezipiert.

Woran machen Sie das fest? «Laudato si’» ist doch anschlussfähiger als viele andere päpstliche Enzykliken.

Hagencord: Es ist schön, dass «Laudato si’» von vielen Menschen gefeiert wird. Aber ich kenne keine Bischofskonferenz, die «Laudato si’» in radikaler Konsequenz durchdrungen hat. Ich warte darauf, dass die Kirche mit ähnlicher Konsequenz «Laudato si’» umsetzt wie die Pillen-Enzyklika von Paul VI. Hier zeigt sich ein Grundproblem: Die Kirche ist leibfeindlich, hat sich immer auf die «anima», auf die Seele konzentriert – und dabei das Animalische vergessen: sowohl das Animalische im Menschen als auch das Animalische anderer Lebewesen.

«Die Gewinner der industriellen Massentierhaltung sind Grosskonzerne und die Pharmaindustrie.»

Was sagen Sie einem Schweizer Bauern?

Hagencord: Es gibt fundamentale theologische Fragen. Und es gibt Realpolitik. Ich bin Realist genug, um zu sagen: Wir können nicht von heute auf morgen alle Veganerinnen und Veganer werden. Umso wichtiger ist es, mit den Tieren, die uns anvertraut sind, anders umzugehen. Und da können lokale Landwirte auch zu Verbündeten werden. Die Gewinner der industriellen Massentierhaltung sind Grosskonzerne und die Pharmaindustrie.

Nach der Protestaktion im Gottesdienst ermittelt die Stadtpolizei, der Zürcher Generalvikar hat die Stör-Aktion verurteilt. Was raten Sie der Pfarrei?

Hagencord: Ich würde auf eine Anzeige verzichten und die Stör-Aktion zum Aufhänger nehmen für eine vertiefte theologische Debatte: Was genau ist passiert? Wo stehen wir? Wie verhalten wir uns zum Thema Gewalt gegen Tiere und gegen die Erde? Was können wir als Gemeinde jetzt tun? Und was machen wir konkret an Ostern? Woher kommen unsere Ostereier? Wie können wir das Ritual bewusst feiern und die «Ehrfurcht vor dem Leben» betonen? Ich bleibe dabei: Die Stör-Aktion ist grossartig.

* Rainer Hagencord (61) hat katholische Theologie in Münster und Freiburg i.Ü. studiert. Später studierte er noch Biologie. 2009 hat er das Institut für Theologische Zoologie in Münster gegründet. Er ist Priester des Bistums Münster und gibt regelmässig Wanderexerzitien im Schweizer Nationalpark Val Müstair.


Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/tier-theologe-lobt-veganer-ehepaar-weck-die-tote-christenheit-aus-dem-schlaf-der-sicherheit/