Wie eine «beschissene Situation» zum Orgel-Transfer nach Südtirol führt

Heute spielt der Kirchenmusiker Mario Pinggera zum letzten Mal auf der Chororgel in Thalwil ZH. Dann kommt die Orgel nach Südtirol. Am Anfang des Orgel-Transfers standen Unbekannte, die eine Orgel mit Kot bewarfen.

Raphael Rauch

Wie kommt es, dass die Thalwiler Chororgel nach Südtirol gelangt?

Mario Pinggera*: Durch eine beschissene Situation.

Wie bitte?

Pinggera: Es tut mir leid, aber es hat wirklich mit Exkrementen zu tun. Ich war im Sommer 2020 zur Aushilfe in Prad am Stilfserjoch in Südtirol. Unbekannte haben dort die Orgel mit menschlichen Exkrementen beworfen – offenbar vom Hauptschiff aus. Die Orgelfront, die Spieltischabdeckung und das Pedal mussten gereinigt werden. Der Organist war völlig fertig und hat den Dienst – nachvollziehbar – nicht angetreten. Wir haben die Carabinieri gerufen und beim Warten auf die Polizei habe ich erfahren: Die Kirche sucht eine Chororgel. Denn die Kirche in Prad ist relativ gross, da passen 1200 Menschen rein. 

Und dann?

Pinggera: Ich habe kurze Zeit später von Markus Weber von der Baukommission im Bistum Chur erfahren: Die Thalwiler renovieren ihre Kirche und die Chororgel muss weg. Der Altarraum wird neu gestaltet. Es wird ein heller, luftiger Raum – da stört die Chororgel nur. Und dann habe ich die Orgel nach Prad vermittelt. Das war nicht einfach. 

«Noch am selben Abend haben die Leute zugesagt, die Kosten zu übernehmen.»

Warum nicht? 

Pinggera: In Südtirol gibt es keine Kirchensteuer. Die Pfarrei Prad muss sogar die Kosten für die Kirchenheizung aus Opfergeldern bestreiten. 2021 hatte die Pfarrei ein ungedecktes Defizit von über 10’000 Euro. Ich habe etwa 40 Briefe an Unternehmer, Handwerker und Privatleute aus Prad mit einer Einladung in die Pfarrkirche verschickt. Ohne zu sagen, worum es geht. Ich habe das Projekt vorgestellt – und noch am selben Abend haben die Leute zugesagt, die Kosten für Transfers, Orgelbauer und Zoll zu übernehmen. Insgesamt rund 30’000 Euro. Grossartig!

«Ich kenne schweizweit keine Orgel mit so einer Lage.»

Jede Orgel ist einzigartig. Was ist an der Thalwiler Chororgel besonders?

Pinggera: Die Orgel stammt von Orgelbau Metzler aus dem Jahr 1983. In den 1980er-Jahren gab es nicht immer die besten Orgeln, aber diese Orgel ist schon sehr gut geworden. Der Klang ist einer spätbarocken italienischen Orgel nachempfunden – ein nobler Klang, der bestens nach Prad passt. So richtig besonders macht die Chororgel aber ihre momentane Lage in der Thalwiler Kirche. Ich kenne schweizweit keine Orgel mit so einer Lage.

Was meinen Sie mit Lage?

Pinggera: Die Orgel steht mitten im Altarraum, ist wie ein Hochaltar – nur ohne Tabernakel. Die Orgel fungiert als Raumteiler. Ich persönlich halte das für eine der vielen Bausünden, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstanden sind. Der Dombaumeister von Köln hat einmal gesagt, es wurden im Zweiten Weltkrieg nicht so viele Kirchen zerstört wie durch unsachgemässe Umgestaltungen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Ich bin ein grosser Freund des Zweiten Vatikanischen Konzils – aber in diesem Punkt muss ich dem Dombaumeister recht geben. Der Altarraum in Thalwil kann durch die Orgel nicht so wirken, wie er könnte.

Bekommt die Orgel in Prad einen ähnlich exponierten Platz wie in Thalwil?

Pinggera: Nein. Der Chorraum in Prad ist gefühlt so gross wie die ganze Kirche in Thalwil – also wird sie allein von den Dimensionen her nicht so exponiert sein. Die Orgel wird in Prad auch im Chorraum stehen – aber seitlich. Ich finde das gut. So kann der Organist oder die Organistin auch Kontakt zum Zelebranten haben und sitzt nicht mit dem Rücken zu ihm, wie das momentan der Fall ist. 

Was hat es mit den Bildern auf der Chororgel auf sich?

Pinggera: Die gehören zur Chororgel und kommen jetzt auch nach Südtirol. Die Bilder stammen von Walter Habdank. Das ist ein Künstler aus Starnberg bei München. Die Bilder interpretieren das Evangelium: Szenen aus dem biblischen Leben, die bestimmte Akzente setzen und die man hervorragend in der Predigt aufgreifen kann. Und zu denen man einfach nur das Auge schweifen lassen kann.

Fallen Kunst und Orgel öfter zusammen wie in Thalwil?

Pinggera: In dieser Form kenne ich das aus der Schweiz nicht. Von alten italienischen Orgeln kenne ich Holzflügel, die die Orgelpfeifen verdecken, zum Beispiel in der Fastenzeit. In Thalwil sind die Pfeifen aber immer verdeckt: Von vorne sind nur die Bilder zu sehen. Durch geschickte Öffnungen im Gehäuse ist die Orgel akustisch trotzdem super wahrnehmbar – der Klang ist wunderbar.

«Letztes Jahr sind Tränen geflossen.»

Viele Menschen kennen die Thalwiler Kirche nur mit dieser Orgel. Verstehen Sie, wenn manche wehmütig sind?

Pinggera: Klar, das ist wie ein Trauerprozess und kann sehr emotional werden. Fast 40 Jahre lang haben die Habdank-Bilder und die Orgel den Altarraum geprägt. Letztes Jahr sind Tränen geflossen, als die Südtiroler kamen und alles unter Dach und Fach brachten. Aber ich bin mir sicher: Wenn die Thalwiler sehen, wie schön ihre Kirche nach der Renovierung aussieht und wie schön der neue Ort der alten Chororgel ist, werden alle glücklich sein.

Wie kommt die Orgel nach Südtirol?

Pinggera: In einem Zwölftonner. Ich habe die Zollpapiere vorbereitet, am 6. April kommt ein Südtiroler Orgelbauer zum Abbauen – und dann geht es ab nach Prad. Irgendwann nach Ostern werden wir die Orgel feierlich in Prad einweihen. Natürlich mit einer Delegation aus Thalwil. Und: Eigentlich verlässt die Orgel nicht das Bistum Chur! Das Vinschgau war einst Bistumsgebiet und das Priesterseminar in Meran! 

«Schön wäre es, wenn nun eine Partnerschaft zwischen Thalwil und Prad entstehen könnte.»

Klingt nach einem Happy End.

Pinggera: Ehrlich gesagt war das schon eine Zangengeburt. Wenn ich gewusst hätte, welcher Aufwand dahintersteckt, hätte ich mich wahrscheinlich wieder zurückgezogen. Schön wäre es, wenn nun eine Partnerschaft zwischen Thalwil und Prad entstehen könnte.

Sie sind Pfarrer von Richterswil. Warum mischen Sie sich in Thalwil ein?

Pinggera: Ich mische mich nicht ein. Pfarrer Marius Kaiser macht in Thalwil einen super Job und hat ein tolles Team. Aber wenn ich als Kirchenmusiker helfen kann, mache ich das gerne. Und dass Prad meine Heimatgemeinde ist, dürfte nichts anderes als glückliche Fügung sein (lacht).

* Mario Pinggera (52) ist Pfarrer von Richterswil und Dozent für Kirchenmusik an der Theologischen Hochschule Chur.

Das Abschiedskonzert für die Thalwiler Chororgel ist heute, Sonntag, um 16 Uhr in der Pfarrkirche St. Felix und Regula


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