Markus Ries: Benedikt XVI. hat dem Ansehen des Papsttums enorm geschadet – er sollte schweigen

Der Luzerner Kirchenhistoriker Markus Ries findet: Bischöfe sollten zurücktreten können, ohne den Papst fragen zu müssen. Die Bezeichnung «emeritierter Papst» für Benedikt XVI. lehnt er ab: «Aus kirchengeschichtlicher Perspektive ist er ein Kardinal – und fertig.»

Jacqueline Straub

Sie haben einen Vortrag zum Thema «Kirche am Abgrund: Kämpfen und Hoffen seit Benedikt XVI.» gehalten. Wo finden derzeit die Kämpfe statt?

Markus Ries*: Hauptsächlich erlebe ich diese Kämpfe auf dem Synodalen Weg in Deutschland. Dort werden die drängenden Fragen angepackt – es gibt auch Kontroversen. Das ist gut so. Denn Demokratie bedeutet, dass mit Widersprüchen gelebt werden muss. Es geht immer um einen Aushandlungsprozess.

Macht Ihnen der Synodale Weg in Deutschland Mut?

Ries: Auf jeden Fall. In den vier Synodalforen finden beeindruckende Prozesse statt.

«Ich sehe grosse Chancen im synodalen Prozess»

In der Schweiz kam ein ambitioniertes Projekt wie der Synodale Weg bislang nicht zustande.

Ries: Ein solches Gefäss gehört für einen lebendigen Organismus zum Habitus. Ich halte es für wichtig, dass wir gemeinsam einen Weg gehen. Auch das Diskutieren und das Ringen um die nächsten Schritte sind Elemente davon.

Wie blicken Sie auf den synodalen Prozess in der Schweiz?

Ries: Er ist gut gestartet, ich sehe darin grosse Chancen.

Das Bistum Basel hat keine Professorin und keinen Professor der Uni Luzern zur diözesanen Versammlung eingeladen. Führen das Bistum und die Fakultät ein Parallel-Leben?

Ries: Bischof, Bistumsleitung und Theologische Fakultät ziehen am gleichen Strang – wir unterstützen uns gegenseitig nach Kräften.

Welchen Einfluss hatte die akademische Theologie auf den synodalen Prozess im Bistum Basel?

Ries: Es gab eine Beteiligung in der üblichen Weise. Bei mir beispielsweise war es so, dass eine Studentin die Initiative ergriff und eine Gesprächsgruppe gegründet hat. Das hat mich natürlich ermutigt und ich war mit Herzblut dabei.

«Wir stecken in der grössten Krise seit Generationen.»

Sie blicken positiv auf den synodalen Prozess. Gleichzeitig lautete der Titel Ihres Fastenvortrags «Kirche am Abgrund». Inwiefern steht die Kirche am Abgrund?

Ries: Wir stecken in der grössten Krise seit Generationen. Die unmenschlichen Verbrechen des Missbrauchs in der Kirche haben einen ganzen Abgrund von Problemen sichtbar gemacht.

Die wären?

Ries: Klerikalismus, die fehlende Teilnahme der Gläubigen an kirchlichen Entscheidungen oder auch: wer und wie man in ein Amt kommt.

Haben Sie Angst um die Kirche?

Ries: Ich fürchte nicht, dass die Kirche in dieser Krise untergeht. Aber wir müssen die Zeichen der Zeit erkennen, andernfalls wird eine grosse Zahl von Menschen ihre religiöse Beheimatung komplett verlieren.

Wie sehen die Zeichen der Zeit aus?

Ries: Es braucht umfassende Reformen – so, wie sie auch beim Synodalen Weg in Deutschland gefordert werden. Etwa Transparenz, ein geistlich verantworteter Zugang zu den Ämtern, ein reifer Umgang mit Sexualität und die radikale Aufklärung von Missbrauchstaten.

«Es ist anspruchsvoller, etwas wegzugeben, als zu sagen: Papst, mach’ endlich vorwärts.»

Dafür bedarf es einiger Entscheidungen von Rom.

Ries: Gewiss, Rom und die Bischöfe müssen Verantwortung übernehmen und auch Kritik akzeptieren. Zugleich sind wir aufgerufen, bei uns selbst prophetisch voranzugehen. Dazu gehört auch Verzicht. Konkret kann das heissen: Stehen in einer Kirchgemeinde zwei Kirchen, doch es wird nur noch eine gebraucht, kann Verzicht der richtige Weg sein. Bei uns im Kanton Luzern gab es diese Situation: Eine katholische Kirche sollte der orthodoxen Gemeinde abgetreten werden. Dagegen haben sich viele Leute gewehrt. Es ist anspruchsvoller, etwas wegzugeben, als zu sagen: Papst, mach’ endlich vorwärts.

Als Kirchenhistoriker haben Sie sich mit vielen Krisenzeiten der Kirchengeschichte auseinandergesetzt.

Ries: In einer Krisensituation ist entschlossenes, prophetisches Handeln gefordert. Dabei sind Erneuerungsprozesse so zu gestalten, dass Ausgrenzung und Radikalisierung vermieden werden. Im 16. Jahrhundert ist dies in gewisser Weise geschehen – mit teilweise paradoxen Folgen: Nichts hat den katholischen Zentralismus so sehr gefördert wie die Reformation.

In Ihrem Vortragstitel erwähnen Sie Papst Benedikt XVI.

Ries: Ja. Die Fastenvorträge wurden vor der Pandemie konzipiert. Inzwischen hat Benedikt XVI. im Zusammenhang mit dem Münchener Gutachten auf sich aufmerksam gemacht. Seine Rolle dabei wie auch bei anderen Gelegenheiten war unglücklich. Das beginnt schon mit dem Titel, den Benedikt XVI. heute führt. Angemessen wäre «Kardinal» oder «ehemaliger Papst» – nicht «Papa emeritus».

Welchen Unterschied macht die Nuance: emeritierter oder ehemaliger Papst?

Ries: Aus kirchengeschichtlicher Sicht ist er ein Kardinal – und fertig.

«Wer dieses Amt weitergibt, ist gehalten, sich entschieden zurückzunehmen.»

Hat Benedikt XVI. mit seinen Aussagen zum Münchner Missbrauchsgutachten dem Ansehen der Kirche geschadet?

Ries: Die belastenden Umstände, unter denen die Aussagen zustande kamen, haben Benedikt XVI. und dem Ansehen des Papsttums geschadet. Zuvor schon hatte er sich in problematischer Weise öffentlich geäussert. Wer dieses Amt weitergibt, ist gehalten, sich entschieden zurückzunehmen und Einmischungen aller Art zu unterlassen. 

Trotzdem ist Benedikts Rücktritt historisch. Seit dem 13. Jahrhundert hat das kein Papst mehr getan. Müssen wir uns nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass es künftig einen oder mehrere emeritierte Päpste geben wird?

Ries: Ja, das ist ganz normal. Auch bei anderen kirchlichen Amtsträgerinnen und Amtsträgern gibt es mehrere Ehemalige.

Kann Papst Franziskus das Ansehen des Papsttums wieder verbessern?

Ries: Papst Franziskus trägt eine grosse Verantwortung, er hat die Möglichkeit etwas zu ändern. So kann er es beispielsweise sofort möglich machen, dass Bischöfe selbstbestimmt zurücktreten und dafür nicht erst um Erlaubnis bitten müssen. Der heutige Zustand ist unwürdig, und er wird den Menschen in keiner Weise gerecht.

Was wünschen Sie sich von Papst Franziskus?

Ries: Ein Wunsch ist sicher, dass er Teilhabe besser möglich macht. Frauen sollen gleichberechtigt mit kirchlichen Würdenträgern an den entscheidenden Versammlungen teilnehmen und stimmberechtigt sein. Wir brauchen Diversität, Pluralität und Transparenz. Synoden sollen wieder ein eigenes Gewicht haben. Sie dürfen nicht länger darauf beschränkt bleiben, Vorschläge zu machen, aus welchen dann unbekannte Leute im Verborgenen eine Enzyklika formulieren und vom Papst unterschreiben lassen.     

«Wir kommen in Bewegung!»

Was muss sich Ihrer Meinung nach in der Kirche ändern, damit Sie eine Zukunft hat?

Ries: Es braucht Reformen. Und zwar umgehend.

Haben Sie Hoffnung, dass sich etwas ändert?

Ries: Ja. Weil ich spüre, dass sich etwas bewegt. Als politisch interessierter Schweizer kenne ich die Situation: Veränderungen brauchen ja auch bei uns manchmal mehr Zeit als anderswo – aber aufzuhalten sind sie nicht. In der katholischen Kirche ist es vergleichbar: Wir kommen in Bewegung!

*Markus Ries (62) ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Luzern.


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