Russland, die Ukraine und der Westen: Auf orthodoxe Glaubensgeschwister hören

Der Krieg in der Ukraine wirft Fragen über Ursachen auf. Der Ostkirchen-Experte Stefan Kube* widerspricht in seinem Kommentar der Orthodoxie-Expertin und Freiburger Dogmatikerin Barbara Hallensleben.

Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine, von der politischen Führung Russlands unter Missachtung aller völkerrechtlichen Normen vom Zaun gebrochen, wird von Barbara Hallensleben in das Narrativ vom «Kampf der Kulturen» (Samuel Huntington) eingebettet. Dabei stehe ein dualistisch denkender «Westen» einem nicht näher qualifizierten, aber offensichtlich ganzheitlich denkenden «Osten» gegenüber.

Die Ukraine, an der Grenze zwischen diesen beiden Welten gelegen, steht dabei vor der Herausforderung, «sich als Brückenkopf für den friedlichen Austausch zwischen Ost und West» zu erweisen.

Kein Kampf der Kulturen

Es ist unbestritten, dass das Gebiet der heutigen Ukraine, wie Hallensleben konstatiert, von unterschiedlichen kulturellen und politischen Herrschaftsgebilden beeinflusst worden ist: polnisch-litauisch, habsburgisch, russisch, deutsch, rumänisch und ungarisch. Ergänzen liesse sich noch tatarisch, um nicht den falschen Anschein zu erwecken, dass der Islam in der Geschichte und Gegenwart der Ukraine keine Rolle spielt.

Diese unterschiedlichen Kulturen sind aber keineswegs statisch und unveränderlich, wie von Huntington und seinen Epigonen immer wieder behauptet, sondern unterliegen ständigen wechselseitigen Austauschprozessen und Beeinflussungen. Dualistisch denkt also in erster Linie der- bzw. diejenige, die von mehr oder weniger geschlossenen Kulturkreisen ausgeht.

Skrupellose Machtpolitik

Das von Hallensleben im Vergleich zur Ukraine angeführte «gescheitere jugoslawische Experiment» ist in diesem Sinn durchaus erhellend, aber anders als von ihr impliziert: Ausgelöst wurden die jugoslawischen Zerfallskriege in den 1990er-Jahren nicht durch sich unversöhnlich gegenüberstehende Volksgruppen und Kulturen. Sondern von skrupellosen Machtpolitikern wie Slobodan Milošević oder Radovan Karadžić. Diese luden gesellschaftliche Konflikte und ökonomische Verteilungskämpfe in Jugoslawien durch Propaganda und bewusste Desinformation nationalistisch auf und trugen so zur ethnonationalen Verfeindung bei.

Das wurde von kroatischen und bosniakischen Akteuren aufgegriffen und führte letztlich zum Krieg. Es sollte daher nicht verwundern, dass gerade nationalistische Politiker immer wieder das Narrativ von Huntington anführen, um von ihrem eigentlichen Motiv – dem Machterhalt – abzulenken.

Putin lenkt von inneren Problemen ab

Dieses Muster wiederholt sich gerade mit Blick auf den Krieg in der Ukraine: Um von den inneren Problemen Russlands und den mangelnden Zukunftsaussichten abzulenken, führt das Putin-Regime Krieg gegen die Ukraine.

Das erfolgreiche demokratische Experiment in der unmittelbaren Nachbarschaft ist Putin ein Dorn im Auge, weil das Beispiel der Ukraine der russischen Bevölkerung alternative Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen könnte. Es geht also gerade nicht um einen Kampf der Kulturen, sondern um einen Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung.

Ukrainer haben selbst gewählt

Niemand hat den Ukrainerinnen und Ukrainern von aussen aufgezwungen, zwischen Ost und West zu wählen. Die Wahl für freiheitliche Entwicklung und Demokratie – und nicht für irgendwelche Kulturkreise – haben sie 2013/14 in der «Revolution der Würde» auf dem Kiewer Majdan selbst getroffen. Bestätigt wurde diese Wahl bei den demokratischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2019.

Unterstützung unterhält die ukrainische Bevölkerung damals wie jetzt in diesen schrecklichen Kriegstagen von den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Land. Alle Glaubensgemeinschaften sprechen sich gegen den Krieg aus, auch die zum Moskauer Patriarchat gehörende Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK), wie Barbara Hallensleben anführt.

Ukrainische Kirchenobere nennen Kriegsverantwortliche

Was sie aber nicht sagt, ist, dass die Vertreter der UOK auch klar die Verantwortlichen für den Ausbruch des Krieges benennen. Der Metropolit von Sumy, einer Stadt im Nordosten der Ukraine in unmittelbarer Nähe zur russischen Grenze, um die momentan erbittert gekämpft wird, verurteilte gleich am ersten Kriegstag den russischen Angriff «auf das souveräne Territorium der Ukraine».

Das Oberhaupt der UOK, Metropolit Onufrij, appellierte am Sonntag, den 27. Februar, an den russischen Präsidenten, den «Bruderkrieg» sofort zu beenden: «Das ukrainische und das russische Volk entstammen dem gleichen Taufbecken des Dnipro, ein Krieg zwischen diesen Völkern ist eine Wiederholung der Sünde Kains, der seinen eigenen Bruder aus Neid tötete. Für einen solchen Krieg gibt es keine Entschuldigung, weder von Gott noch von den Menschen.» In den Kirchen der UOK wird für die ukrainischen Soldaten gebetet, die das Heimatland verteidigen.

Patriarch Kyrill schweigt

Am gleichen Tag, dem Fest der Neumärtyrer, an dem die Russische Orthodoxe Kirche all jener gedenkt, die von den Bolschewiken im 20. Jahrhundert umgebracht wurden, war von Patriarch Kirill kein einziges Wort zum Martyrium seiner eigenen Glaubensgeschwister in der Ukraine zu hören. Stattdessen betete er zu Gott, dass die «bösen Kräfte», die immer gegen die «Einheit der Rus’ und der Russischen Kirche» gekämpft hätten, nicht die Oberhand gewinnen und dass zwischen Russland und der Ukraine keine «schreckliche Grenze gezogen wird, die mit dem Blut von Brüdern befleckt ist».

Solch eine Grenze wird aber nicht von irgendwelchen nationalistischen Kräften in der Ukraine oder vom Westen gezogen, sondern von Putin durch seinen Angriffskrieg – und von all jenen, die zu seinem Treiben schweigen.

Gläubige erwarten klare Stellungnahme

Es reicht eben nicht mehr, sich allgemein von Krieg zu distanzieren, wie dies Metropolit Hilarion, der Leiter des Kirchlichen Aussenamts des Moskauer Patriarchats, Ende Januar, also noch vor Kriegsausbruch, getan hat. Die Gläubigen der UOK, aber auch zahlreiche Gläubige in Russland, Belarus und der orthodoxen Diaspora erwarten, dass ihre Kirchenleitung um der Glaubwürdigkeit willen der Kirche selbst klar Stellung bezieht.

Das Moskauer Patriarchat aber schweigt, der Patriarch spricht von «Ereignissen», und fordert alle Seiten auf, darauf zu achten, dass keine Zivilisten ums Leben kommen (bei Soldaten scheint das in Ordnung zu sein). Auch Barbara Hallensleben sagt nicht, wer den Krieg begonnen hat. Sie spricht von «kriegerischen Handlungen» und insinuiert, die USA hätten den Krieg begonnen.

Vielleicht haben der Patriarch und Metropolit Hilarion tatsächlich keine Möglichkeit, auf Putin einzuwirken. Aber sie geben durch nichts zu erkennen, dass sie die Situation anders sehen als die russische Führung. Die Kritik an der Leitung der Russischen Orthodoxen Kirche bezieht sich in diesem Fall nicht auf ihre Beziehung zum russischen Staat und seiner Führung, sondern auf ihr schweigendes Zusehen zum Überfall auf die Ukraine.

Hören auf orthodoxe Gesprächspartner

Barbara Hallensleben beklagt, dass wir im Westen zu wenig auf die orthodoxen Glaubensgeschwister eingehen. Hören wir also zum Abschluss einige orthodoxe Stimmen aus Russland, Belarus und der Ukraine.

Gläubige haben eine Petition an Patriarch Kirill gestartet, es endlich Metropolit Onufrij gleichzutun und auf Präsident Putin einzuwirken, den verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine zu beenden.

Ein orthodoxer Kollege aus Minsk, dem wir vor zwei Jahren einen Teil unserer Bibliothek überlassen haben, schreibt öffentlich auf Facebook: «Ich bin als belarussischer Bürger dagegen, dass das Territorium und die Armee meines Heimatlandes für die Aggression gegen das Brudervolk der Ukrainer missbraucht wird.» Er riskiert damit viel, wir alle konnten in den letzten zwei Jahren die gewaltsame Niederschlagung der Proteste in Belarus und die anschliessenden Repressionen gegen jegliche Art von Opposition mitverfolgen.

Keine Kommemoration mehr an Moskauer Patriarchen

Kommen wir noch einmal auf das ostukrainische Sumy zurück. Dort haben Geistliche der UOK mittlerweile folgende Erklärung veröffentlicht: «Obwohl Seine Heiligkeit Patriarch Kirill seit vielen Jahren sagt, dass die Ukraine in seiner pastoralen Verantwortung steht, sehen wir heute keinen Versuch seinerseits, die leidende Bevölkerung der Ukraine zu schützen. In dieser schwierigen Situation haben wir, geleitet von unserem pastoralen Gewissen, beschlossen, die Kommemoration an den Moskauer Patriarchen während der Gottesdienste einzustellen. Diese Entscheidung wird auch von den Forderungen unserer Gläubigen diktiert, die den Namen des Patriarchen Kirill in unseren Kirchen leider nicht mehr hören wollen.»

Dies sind drei Schlaglichter von Menschen, die in dunklen Zeiten von Krieg (Ukraine) und Repressionen (Russland und Belarus) Menschlichkeit, Solidarität und ihren Glauben bezeugen. Auf sie sollten wir hören, dann könnten wir etwas lernen!

*Stefan Kube ist Leiter des Instituts G2W in Zürich – des Ökumenischen Forums für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West – und Chefredaktor der Zeitschrift «Religion & Gesellschaft in Ost und West».

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/russland-die-ukraine-und-der-westen-auf-orthodoxe-glaubensgeschwister-hoeren/