Notker Wolf: «Keiner redet mehr, was in der Kirche alles Gutes geschieht. Das ist Verblendung»

16 Jahre lang hat der deutsche Benediktiner Notker Wolf als Abtprimas die Benediktiner-Zentrale in Rom geleitet. Am Sonntag berichtete er in Mariastein über seine Erfahrungen. Missverständliche Aussagen zur Missbrauchskrise fing Mariano Tschuor auf.

Jacqueline Straub

Der Nachmittag beginnt locker. Mariano Tschuor, Projektleiter von «Mariastein 2025», möchte von Notker Wolf (81) wissen, ob er der Rockband «Deep Purple» oder den Rolling Stones näherstehe. «Mit Deep Purple bin ich schon auf der Bühne gestanden und habe ‘Smoke on the Water’ auf der E-Gitarre gespielt», erzählt er dem Publikum.

Wolf kritisiert Deutsche Bischofskonferenz

Später geht es ans Eingemachte. Aus dem Publikum spricht ein Mann Notker Wolf auf die Krisensituation der katholischen Kirche an. Was vorgefallen ist, sei schlimm, antwortet der emeritierte Abtprimas. Aber: «Keiner redet mehr, was in der Kirche alles Gutes geschieht. Das ist Verblendung.» Die Vergebung komme zu kurz: «Wenn ich von Vergebung spreche, ist das keine Bagatellisierung. Doch die Leute wollen nicht verzeihen.»

Der deutsche Benediktiner kritisiert die Deutsche Bischofskonferenz. Diese sei zusammengezuckt, als die ersten Vorwürfe laut geworden seien: «Ich habe mich damals gefragt, ob die Bischöfe denn nicht die Bibel kennen. Denn dort steht: Selig seid ihr, wenn ihr verleugnet werdet und euch Schlechtes nachgesagt wird.» Betretenes Schweigen im Saal. Moderator Mariano Tschuor interveniert und sagt, ob mit der biblischen Auslegung der Tatbestand verharmlost werde. Notker Wolf erwidert: «Überhaupt nicht.»

Die grosse weite Welt der benediktinischen Gemeinschaft

Zwischen «Deep Purple» und dem heiklen Moment in der Diskussion erhalten die knapp hundert Zuhörerinnen und Zuhörer in Mariastein Einblicke in das weltweite Ordensnetzwerk der Benediktiner.

Sie erfahren von Papst Leo XIII. (1878-1903), der den Benediktinern vorwarf, kein Orden zu sein, «sondern eine Unordnung». «Das gilt bis heute», scherzt der Abtprimas. «Denn jedes Benediktinerkloster ist selbstständig.» Auch nachdem die Benediktiner auf nationaler Ebene Kongregationen gegründet und eine weltweite Konföderation eingeführt hatten, blieben die einzelnen Klöster unabhängig.

Benediktinerinnen in Indien mit ockerfarbenem Sari

Im Jahr 2000 wurde Notker Wolf zum Abtprimas und damit zum obersten Repräsentanten der Benediktiner gewählt. Er könne als Abtprimas allerdings nicht in die Belange der Klöster eingreifen. Der Abtprimas sei ein Meister der Machtlosigkeit: Die Regeln des Heiligen Benedikts seien ein «einigendes Band aller Klöster, trotz Unterschiede hinsichtlich der Sprache und der Kultur.» Dieses «Band der Einheit» ermögliche wiederum eine grosse Vielfalt.

So tragen etwa Benediktinerinnen in Indien einen ockerfarbenen Sari. Dennoch spüre man überall den «benediktinischen Stallgeruch», sagt Wolf. Nicht die strukturelle Einheit mache die Einheit der Klöster aus, sondern die Bindung aller Benediktinerinnen und Benediktiner an die Regeln Benedikts.

«Bete und arbeite und lies»

«Ora et labora et lege», «Bete und arbeite und lies»: Auch darauf geht Notker Wolf ein. Dem Heiligen Benedikt sei es ein grosses Anliegen gewesen, dass alle Mönche lesen können. Entsprechend lernten die jungen Männer im Kloster lesen und schreiben. «Auch vertraute man Kinder und Jugendliche dem Kloster zur Bildung an.» So habe sich die Schultradition der Benediktiner entwickelt.

Und die gibt es auch heute noch. Nicht nur in den Schweizer Klosterschulen, sondern auf der ganzen Welt. Auch in Brasilien: «Heute sind die Benediktiner dort für 160’000 Schülerinnen und Schüler zuständig.» Auch betreiben die Benediktiner Hochschulen. Die berühmteste ist Sant’Anselmo in Rom: «Das ist nicht nur eine Ausbildungsstätte für Benediktiner, sondern für die ganze Weltkirche.»

In heikler Mission wegen China und Nordkorea

Ein weiteres wichtiges Anliegen der Benediktiner sei die Sorge um die Kranken und Pilger: «Dem Heiligen Benedikt lag diese Sorge besonders am Herzen. Er hat ein eigenes Haus für Gäste vorgesehen.» Daraus entwickelten sich Hospize entlang der Pilgerwege.

Ein Abtprimas ist zugleich als Diplomat gefordert: Notker Wolf berichtet, wie er an der Errichtung von Spitälern in heiklen Ländern wie China oder Nordkorea beteiligt war.

Zu den Benediktinerinnen und Benediktinern gehört auch die Landwirtschaft. «Wir leben von dem, was wir selbst erwirtschaften», sagt Notker Wolf. Er erzählt von fünf Ordensschwestern in Indien, die in einer kleinen Hütte lebten und alles für ihren Unterhalt selbst anpflanzten. In Vietnam besuchte er ein Frauenkloster, in dem die Nonnen Maurerinnen und Schreinerinnen waren.

«Wir müssen Zeugnis ablegen»

Und die Zukunft des Ordens? In Europa und Nordamerika gehen die Neueintritte zurück. «In Lateinamerika sind es ähnliche Zustände», sagt Notker Wolf. In Afrika gebe es noch «regen Zulauf». Asien hingegen sei am Kippen. Früher gab es auf den Philippinen oder in Südkorea viele Berufungen. Doch auch die werden weniger: weil die Kinderzahl in der Bevölkerung zurückgehe und «weil dort die westliche Mentalität eingekehrt ist».

Der emeritierte Abtprimas ist überzeugt: «Es wird immer Menschen geben, die auf der Suche nach Gott sind und ihr Leben in benediktinischen Gemeinschaften verwirklichen wollen.» Er betont: «Wir müssen Zeugnis ablegen, dass unser Leben uns nicht einengt, sondern befreit.»


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