Regisseurin: «Vergänglichkeit geht uns Sterbliche alle an»

Der Dokumentarfilm «Brunngasse 8» ist ein Plädoyer für den Frieden – auch zwischen den Religionen. Warum eine Maus erzählerisch durch «Brunngasse 8» führt, erklärt Filmemacherin und Literaturwissenschaftlerin Hildegard Keller im Interview.

Ueli Abt

Der Dok-Film «Brunngasse 8» handelt von einem Haus mit Wandmalereien, vom jüdischen Zürich im Spätmittelalter, aber auch von einer Mieterin aus Italien, die sowohl ihren Vater wie auch ihren ersten Mann in je einem Weltkrieg verlor. Es geht um den Frieden, auch zwischen den Religionen. Und der Film reflektiert das Leben an sich. Stand diese Vielschichtigkeit von Anfang an fest?

Hildegard Keller: Nein, ein so dicht geknüpfter Teppich aus Erzählsträngen entsteht nicht in einem Wurf. Es braucht Jahre, bis alles zusammenkommt. Die erste Idee zum Film über das Haus und seine älteste Bewohnerin wurde an jenem Nachmittag im Spätherbst 2016 geboren, als mich eine Freundin zu Silvana Lattmann mitnahm. Sie bewohnte damals die Wohnung im ersten Stockwerk der Brunngasse 8, wir tranken Kaffee in den Räumen mit den Wandmalereien. Die alte Dichterin fand ich sympathisch, und das geschichtsträchtige Haus berührte mich. Die Dreharbeiten mit den sechs Personen, die im Film zu Wort kommen, und die Montage des Films beanspruchten viele Jahre.

«ich wusste lange nicht recht, wo die schwarze Maus hin gehörte.»

Wie haben Sie zu Ihrer filmischen Erzählung gefunden?

Keller: Ich arbeitete mich in Kreisen tiefer und tiefer. Es wurde historisch tiefer und zugleich universaler, grösser und zeitübergreifender. Sehr bald kam die schwarze Maus aus der mittelalterlichen Legende dazu, aber ich wusste lange nicht recht, wo sie hin gehörte – bis ich dann entdeckte, dass sie sich als Rahmenerzählung eignet. Die zwei Mäuse, eine schwarz und eine weisse, symbolisieren die Zeit.

«Ein Thema, das alles verbindet, ist die Vergänglichkeit.»

Diese schwarze Maus aus der indischen Erzählung führt nun als Beobachterin durch den rund einstündigen Film. Warum eigentlich?

Keller: Ich suchte und fand im alten Haus, den Bildern aus dem 14. Jahrhundert und der Bewohnerin, die zwei Weltkriege erlebt hat, Themen, die uns alle angehen. Die zwei Mäuse nagen an der Lebenswurzel der Menschen. Und wenn die Wurzel durchgenagt ist, stirbt der Mensch. Ein Thema, das alles verbindet, ist die Vergänglichkeit. Sie geht uns Sterbliche ja nun alle an. Der letzte Satz des Films, gesprochen vom Erzähler Krishan Krone, lautet: «Die Zeit ist das Kostbarste, was wir Menschen haben.»

Sie sind Literaturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin und Schriftstellerin. Wie kamen Sie zum Filmemachen?

Keller: Mein erster Film entstand, als ich Professorin in den USA war, wo ich mit «Whatever Comes Next» lernte, wie man einen Film macht. Mit jungen Amerikanern, die ich an der Uni kennenlernte, experimentierten wir und fanden Mittel und Wege, die künstlerische Vision, die ich hatte, zu realisieren.

«Ich mag Begegnungen mit Menschen.»

Heute bin ich freiberufliche Autorin. Ich arbeite unabhängig von medialen Grenzen und vermittle an der Uni Zürich, was ich in den USA über multimediales Storytelling gelernt habe. Daneben gebe ich Stadtführungen und Schreibkurse. Ich mag Begegnungen mit Menschen. Filmemachen zählt zu den arbeits- und geldintensivsten Formen dafür.

A propos: Wie gewinnt man Geldgeber für eine Filmproduktion?

Keller: Vor langer Zeit schon habe ich das Antragstellen von der Pike auf gelernt, denn akademische Forschungsprojekte sind ohne Drittmittel nicht zu realisieren. Die Einwerbung von Geldern für künstlerische Projekte funktioniert ähnlich. Zudem ist man beim zweiten Film keine Newcomerin mehr. Hier zählt auch, ob der erste Film erfolgreich war. «Whatever Comes Next», den ich als amerikanische Professorin querfinanziert hatte, war auf Festivals, im Kino und auf 3sat zu sehen. Eine schöne Grundlage für den zweiten Film.

Der Film hat auch von der Katholischen Kirche des Kantons Zürich Geld erhalten. Hatte dies einen Einfluss auf den Inhalt?

Keller: Nein, unsere Produktion ist inhaltlich und künstlerisch unabhängig. Aber die Tatsache, dass Menschen einem Projekt und dem Team, das dahintersteht, Vertrauen schenken, beeinflusst natürlich meine Haltung. Dieses Vertrauen und die eigene Dankbarkeit helfen bei der Arbeit, ob als Filmemacherin, Professorin oder Schriftstellerin.

Und wie bringt man dann den eigenen Film auch noch ins Kino?

Keller: Es ist so, wie wenn Sie ein fertig lektoriertes Romanmanuskript in Ihrer Schublade haben, schön gelayoutet mit allem Drum und Dran, aber Sie haben noch keinen Verlag, der das Buch druckt, in den Buchhandel, in die Presse und die Literaturhäuser und zu anderen Veranstaltern bringt. Bei einem Film kann ich als Produzentin versuchen, den Film in die Kinos zu bringen, oder ich kann ihn einem Verleih anbieten, der diese Arbeit dann übernimmt. Dasselbe gilt auch für Fernsehstationen. Das führte zu immer wieder neuen Begegnungen – auch mit den Menschen, die sich vom Film berühren lassen.

«Brunngasse 8» läuft derzeit im Kino Houdini in Zürich sowie im Cinewil in Wil SG.


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